Es sind die Jahre nach dem Krieg. Die Familie hat ein Haus am äußersten Rand der Stadt, nahe am Fluss, damit man gleich wegkommt für den Fall, dass Karl, der Vater, hat ein Kriegstrauma. Er war in einer Baracke verschüttet worden damals. Die Angst vor dem Krieg ist immer präsent. Wenn die Nachrichten im Radio beunruhigend sind, geht er in den Keller. Die Familie muss mit. Die Konserven liegen bereit, die Kerze, die Decken, das Spielzeug für die zwei Töchter. Olivia, die jüngere der beiden und Ich-Erzählerin, ist die empfindsamere, die verletzlichere. Auf sie überträgt sich die Angst am stärksten. Geredet wird kaum.
Den Schulsport schwänzt sie, bis blaue Briefe von der Schule eintreffen. Dort gibt es einen Lehrer, der noch mitten im Krieg steckt. Seine Schülerinnen müssen in der Turnhalle üben, wie man schnell zum Schützengraben rennt, sich anschleicht, Deckung sucht, angreift.
"'Gefallene bleiben zurück', höre ich den Lehrer neben meinem Ohr. Er sagt es ganz leise, denn das ist eigentlich auch verboten." Nach der "Gefechtsübung" nehmen die Mädchen Aufstellung und müssen die Namen russischer Flüsse aufsagen und lokalisieren. Grauenhafte Erfahrungen, sehr eindrucksvoll geschildert!
Olivia zieht sich zurück, baut sich aus Angeschwemmtem ein Versteck am Fluss ihre Version des Kellerbunkers, mit Regendach, Feuerholz und Konserven. Die Bedrohung ist immer da. Quälend. Mutter Rita versucht zwar, so gut es ihr möglich ist, für Erleichterung zu sorgen, liest Geschichten mit gutem Ausgang vor, kann aber (aus Liebe zu ihrem Mann) Olivia nicht schützen, nicht verhindern, dass die junge Frau sehr krank wird. Das Trauma ist schon längst in der nächsten Generation angekommen.
Irgendwann erkennt Olivia, dass sie sich befreien muss, auch um nicht noch ihre Tochter "anzustecken". Das scheint ihr zu gelingen, denn ihre erwachsene Tochter meint: "Ich musste in der Schule keine russischen Flüsse auswendig lernen. Ich musste keine Schützengräben im Sportunterricht bauen. Mich auf Ellbogen zur nächsten Turnmatte ziehen. Meine Angst hält sich in Grenzen."
Es ist ein sehr schmerzhafter Prozess der Ablösung von den Eltern, den Lina Schwenk in Gedankengängen ihrer Protagonistin, Bildern und Szenen schildert. Rückfälle inbegriffen.
Sie findet Szenen, die im Gedächtnis bleiben, wie die militärische Turnstunde, oder die Episode, als Olivia als Krankenschwester einem sterbenskranken Auschwitz-Überlebenden hilft, seine Häftlingsnummer loszuwerden. Am Ende Hoffnung.
Rund gebaut: Die Eltern, ihre Liebe zueinander am Anfang und am Ende. In der Mitte das Leben des Mädchens, der erwachsenen Frau.
190 Seiten für ein ganzes Leben: fein beobachtet, intensiv, berührend.
Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2025.