Wie ein Mann nichts tat - und so den Dritten Weltkrieg verhinderte:
Sowjetunion, 1983. Stanislaw Petrow lebt ein beschauliches Leben mit seiner Frau Raisa und den beiden Kindern Jelena und Dimitri. Jeder Tag folgt derselben Ordnung. Arbeit, Schule, Piroschki mit Pilzen zum Abendessen. Was ihr «Stasik» den ganzen Tag bei der Arbeit genau macht, weiß seine Familie jedoch nicht. Eine streng geheime Tätigkeit in einem geheimen Städtchen. Eines Nachts übernimmt Petrow die Schichtleitung für einen erkrankten Kollegen - und wird bei seiner Rückkehr nicht mehr derselbe sein. In einer scheinbar normalen Nacht im Jahr 1983 hat Stanislaw Petrow über das Schicksal der ganzen Welt entschieden.
Lukas Maisel führt uns mit seinem neuen Roman in die Zeit des Kalten Krieges, in der ein Fehlalarm des atomaren Abwehrsystems fast einen Dritten Weltkrieg ausgelöst hätte. In seiner unverwechselbar eleganten Prosa erzählt er von Zufall und Schicksal - von einer historischen Begebenheit, die gespenstisch aktuell ist.
Besprechung vom 11.06.2025
Trau keinem Algorithmus
Fehlalarm: Lukas Maisel erzählt die Geschichte von Stanislaw Petrow als Parabel darüber, dass es gar keinen Pazifismus braucht, wo Logik herrscht
Wenn ein Verlag eine kurze Erzählung mit viel Satzzauber auf knapp mehr als einhundert Seiten streckt, muss er sehr davon überzeugt sein. Ein bisschen stutzt das schon an im Falle von Lukas Maisels poetischer Novelle "Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete", denn so ungeheuerlich das darin erzählte, wahre Ereignis ist - ein keineswegs unbekanntes -, so wenig glänzt der Text.
Maisel erzählt in wohlgestimmter, leicht dem Kitsch zugeneigter Nahaufnahme vom wichtigsten Moment im Leben des sowjetischen Oberstleutnants Stanislaw Petrow, der durchaus als wichtigster Moment in unser aller Leben gedeutet werden kann. Petrow arbeitete als leitender Offizier in einer sowjetischen Satellitenüberwachungsstation. In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983, um 0.15 Uhr, meldete das von ihm selbst mitentwickelte computergestützte Frühwarnsystem einen Angriff mit amerikanischen nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR. Ein solcher Angriff hätte mit einem sofortigen nuklearen Gegenschlag vergolten werden müssen, aber Petrow zweifelte an der Zuverlässigkeit der Information. Er blieb auch skeptisch, als eine zweite, dritte, vierte und fünfte Atomrakete angezeigt wurde. Weil Petrow seinen Vorgesetzten einen Fehlalarm meldete, blieb eine wahrscheinliche - und fatale - Eskalation aus. Dass tatsächlich keine Raketen am Himmel waren, wurde erst nach siebzehn Minuten klar, denn da hätten sie von einer sowjetischen Radarstation entdeckt werden müssen. Petrow wurde für seine Einschätzung nicht offiziell beglückwünscht. Es galt Geheimhaltung. Er verließ 1984 die Streitkräfte.
Das Ereignis selbst ist von solcher Ausstrahlungskraft, dass Maisel vor einer allzu starken Bearbeitung offenbar zurückschreckte. Er beschränkt sich vielmehr auf die einfühlende Introspektion, was ein wenig an Schreibschulen-Stil erinnert. Die Weiterungen ins Politische oder Philosophische überlässt der Autor den Lesern. So schauen wir Petrow über die Schulter, wenn er an diesem Abend zur Nachtschicht fährt, die er für einen kranken Kollegen übernommen hat. Wir schwelgen mit ihm in Erinnerungen an die Schönheit Kamtschatkas oder die Liebe zu seiner Frau, zittern mit ihm durch die entscheidenden Minuten, vollziehen seine logischen Schlüsse nach ("Fünf Raketen waren für einen Erstschlag immer noch zu wenig. Ihm kam ein Sprichwort in den Sinn, das auf merkwürdige Weise passte: Niemand löffelt einen Wassereimer mit einem Teelöffel leer."), geraten in Zweifel ("Was, wenn es die Strategie des Feindes war, Verwirrung zu stiften?"), atmen mit ihm auf und durchleben seine Ernüchterung, als er bemerkt, dass man ihm die Schuld für den Fehlalarm zuschob: "Der naheliegendste Sündenbock war er, ein zwar hoher Offizier, aber kein General."
Auffällig plump sind die Vorausdeutungen. Als Petrows Kinder streiten, lässt er sie gewähren: "Irgendwann hören sie schon auf." Als wäre das nicht schon überdeutlich, lässt Maisel Petrows Frau zudem sagen: "Eines Tages, Stasik, wird dich dein Abwarten einmal in Schwierigkeiten bringen." Immer noch nicht genug, erinnert sich Petrow beim Pilzesammeln an diesen Satz, weil er bei einem Steinpilz zu lange gewartet, ihn den Schnecken überlassen hatte: "Vielleicht hätte er den Pilz gleich mitnehmen sollen." Man fühlt sich zu sehr betreut von dieser demonstrativen Poetik.
Nach schlimmstem Reportage-Storytelling klingen indes Sätze wie: "Was er nicht ahnte: In weniger als einem Jahr würde er das Militär verlassen." Oder: "Er ahnte nicht, dass er morgen nicht nach Hause käme." Und an einer entscheidenden Stelle ist der innere Monolog des Helden nicht nachvollziehbar. In den Minuten der Ungewissheit fragt er sich, was wäre, wenn er sich irrte: "Man würde ihn als Hochverräter festnehmen und sich vor dem Weltuntergang noch die Zeit nehmen, ihn standrechtlich zu erschießen. Aber sein Tod wäre nicht das eigentlich Schlimme. Er würde diese Welt verlassen im Wissen, dass er verantwortlich war für den Tod von Abermillionen." Das ist Unsinn. Für den Tod wären die Angreifer verantwortlich. Er wäre höchstens dafür verantwortlich, keine letzte Rache geübt zu haben, also für die Verschonung von Abermillionen auf der Seite des Gegners.
Lukas Maisel hat recherchiert, stützt sich auf Aussagen von Menschen, "die Stanislaw Petrow kannten", denn er versteht seine Erzählung auch als eine Art Wiedergutmachung für den Dokumentarfilm "The Man Who Saved the World" (2014) von Peter Anthony, in dem Petrow als gefühliger Alkoholiker imaginiert wurde. Im Gegenzug präsentiert uns der Autor einen reflektierten Logiker und lächelnden Weisen. Das eng am Ereignis entlanggeführte Erzählen kann nicht verhindern, dass man diese Geschichte vor allem als Parabel liest: auf das Abwartenkönnen in Zeiten der Instantanreaktionen, auf die globale Gefahr einer allmächtigen Technik, auf den Sieg des gesunden Menschenverstands inmitten einer in Kriege, Hass und Misstrauen verstrickten Gegenwart. Ebenso auf den Hölderlinsatz: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Ganz konkret ist es jedoch eine unerwartete Fabel über den guten Russen, den es - so steht zu hoffen - auch heute vielleicht noch irgendwo gibt, selbst in einer Militärhierarchie, die sogar zum Angriff bläst, ohne dass eine Bedrohung gemeldet worden wäre. Schade nur, dass diese Erzählung in stilistischer Hinsicht so schwachbrüstig bleibt. OLIVER JUNGEN
Lukas Maisel: "Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. 128 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.