Besprechung vom 16.05.2024
Ist Ruhe Dichterpflicht?
Manfred Enzensperger nimmt Platz an Putins Tisch
Knapper könnte ein Buchtitel kaum sein: "tisch". Fünf Buchstaben. Und das bei einem Dichter, der die deutsche Kompositabildung liebt: "kanzlerkandidatenkandidat", "tortelliniexistentialismus" oder "doppeltonnentaschenfederkernmatratze" - das sind nur einige Wörter in Manfred Enzenspergers neuem Gedichtband, die die Autoschreibkorrektur (noch so ein Wort!) auf eine harte Probe stellen.
"Tisch" dagegen, noch dazu kleingeschrieben, das klingt einfach. Man denkt an den Schreibtisch des Dichters, an Bleistifte, hölzerne Beine, Kerben in der Platte, Dellen, die das beständige Klopfen des Metrums verursacht hat. Doch der Tisch auf dem Cover dieses Gedichtbandes ist ein ganz anderer. Er ist groß, weiß, massiv, marmorn und unendlich geschmacklos: Es ist, auch wenn das im Impressum nicht verraten wird, ein Tisch im Kreml, es ist "tisch p", wie der Titel eines von Enzenspergers Gedichten lautet, es ist Wladimir Putins Tisch.
Aber was will uns das Foto dieses Tisches, was will uns das Gedicht "tisch p" sagen? Da liest man: "wörter fallen aus der weltwörterordnung". Oder: "mit flächendeckenden präzisionsnachrichten / beginnt die zerschlagung im offenen feld". Im Krieg stirbt also die Wahrheit zuerst? Nun gut, das ist eine Binse. Aber ein gewisses Unwohlsein verstärkt sich mit dem Gedicht "und nun die internationale fresseschau", einem Listengedicht, das Zeitungsnamen zusammen mit in den Presseschauen gebräuchlichen Verben aneinanderreiht: "die frankfurter rundschau moniert / die nürnberger nachrichten unterstreicht die welt hält / fest die faz verlangt die nzz resümiert [...] der guardian greift auf die new york post / pflichtet bei".
Was soll das? Sind die genannten Blätter alles Zeitungen, die ihre "Fresse" lieber halten sollen? Die lügen? Einen Informationskrieg führen? Warum kommen dann aber nur westliche Blätter vor und nicht die "Prawda"?
Diese Gedichte geben sich spielerisch und sind doch voller Bitterkeit: "und du denkst noch so eine gedenkstätte". Gedenkstätten scheinen den Autor, Jahrgang 1952, genauso zu nerven wie "die gerade eröffnete kapitalismuskritische weltkunstausstellung", "postkolonialistische wort-/karnickel" und die Tatsache, dass die Europäische Union "den kandidatenstatus für kiew" empfiehlt. Irgendwie ist Enzensperger (oder soll man sagen: dem "lyrischen Ich"?) alles zu viel. Er will seine Ruhe. Von den Zumutungen der Gegenwart - Elektroautos, Ukrainern, die nicht sterben wollen, westlichen Medien und Waldorfkindergärten - will er nichts wissen: "schaue dann ins leere. schaue gerne ins leere." Manfred Enzensperger, so erfährt man aus der dem Bändchen beigegebenen Kurzbiographie, lebt in Köln, Düsseldorf und Leverkusen. TOBIAS LEHMKUHL
Manfred Enzensperger: "tisch". Gedichte.
Verlag Ralf Liebe,
Weilerswist 2024.
88 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "tisch" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.