Wie oft habe ich versucht, die wahnsinnig komplexe Geschichte der Ukraine zu verstehen. Wie hilflos habe ich versucht, die Splitter und Scherben im Nahostkonflikt zu sortieren. Toll wäre ein Zugang, dachte ich oft, der mir ein Gefühl für diese Regionen gibt. Dieses Buch tut es. Marina Chernivsky reicht uns einen roten Faden. Sie erzählt ihr Leben.
Unprätentiös und präzise führt sie uns durch eine Geschichte von Schönheit und Glück, Gewalt und Grausamkeit im Dreieck Ukraine-Israel-Berlin. Als Kind, in einer Wohnung in L'viv mit hohen Decken und knarzenden Dielen, saugt sie die Erzählungen der Großmutter vom Krieg auf, im Israel der Neunzigerjahre erlebt sie einen Alltag "intensiver Lebenslust", erschüttert von Bombenattentaten, die fast auch sie erwischen. In den Nullerjahren startet sie von Berlin aus ein Forschungsprojekt mit Überlebenden und Angehörigen der Opfer, dreht in L'viv einen Film über die Spuren früherer Bewohner auf Hinterhöfen, in Treppenhäusern und im Putz alter Fassaden; sucht nach Orten, an denen ein großer Teil ihrer Familie ermordet wurde, und mit ihrem Vater das Dorf seiner Kindheit auf wenige Monate bevor russische Panzer dort rollen. Das Massaker vom 7. Oktober erlebt sie mit ihren Freunden als Rückkehr eines kollektiven Traumas und geht Tango tanzen. "Im Schwanken, Halten und Drehen finde ich meine Achse."
Chernivsky ist bekannt als Gründerin eines Zentrums für antisemitismuskritische Bildung und Forschung, sie leitet mehrere Beratungsstellen in Deutschland und ist Autorin fachwissenschaftlicher Schriften. Hier aber, in Bruchzeiten, erzählt sie zum ersten Mal von sich, in einer virtuosen, fast poetischen Sprache. Sie assoziiert, montiert, legt farbige Alltagserinnerungen, historische Fragmente und Reflexionen wie Folien übereinander. Gerade dadurch entsteht Klarheit, das Gefühl eines persönlichen Zugangs zu diesen Orten und ihrer Geschichte. Sehr empfehlenswert!