Eine triumphale Neuerzählung der Menschheitsgeschichte
»Und so ist in dieser anderen Art der Kulturgeschichte auch eine zeitgemäße kleine, rebellische Kulturtheorie eingeschmuggelt, die uns vor dem Irrtum bewahren kann, dass mit der Kultur etwas nicht stimmt. « Thorsten Jantschek, Deutschlandfunk Kultur
Auf einer Reise von der Chauvet-Höhle in Frankreich durch Nofretetes Ägypten, das klassische Griechenland, die Bibliotheken der Azteken, Ashokas Indien, das China der Tang-Dynastie und weitere Epochen: Diese leicht verständliche und unterhaltsame Big History des deutschamerikanischen Literaturwissenschaftlers Martin Puchner enthüllt die Entstehung und Gründe menschlicher Kultur - und wie kulturelle Aneignung dies ermöglichte.
Wozu brauchen wir Kunst und Kultur überhaupt? Warum sollten wir uns mit unserer Vergangenheit beschäftigen? Martin Puchner erzählt mitreißend, warum wir nur durch Kultur in der Lage waren, unsere Fähigkeiten zu entwickeln, und wie sie durch unsere Begegnungen, kollektiven Verluste und Wiederentdeckungen, Innovationen, Nachahmungen und Übernahmen Gesellschaften über die Jahrhunderte vorangetrieben und unser Überleben gesichert hat. Kultur kann daher nicht als Ressource einer einzelnen Gruppe gesehen werden, sondern entsteht im Austausch mit anderen, als geliehene Form und Verschmelzung von Ideen - durch Zeichnen, Sprechen, Speichern von Wissen. Wie ein riesiges Recyclingprojekt werden kleine Fragmente aus der Vergangenheit hervorgeholt und neu genutzt. Anhand bisher unbekannter Beispiele ermöglicht Puchner einen spannenden, neuen Blick auf die Menschheit und liefert ein wichtigen Beitrag zur Debatte über Originalität und kulturelle Aneignung.
»Eine deutliche Absage an diejenigen, die behaupten, dass Kultur Eigentum von Gruppen, Nationen, Religionen oder Ethien sein kann. « The New York Times
»Dieses Buch . . . ist ein Geschenk, das man genießen sollte. « The Boston Globe
»Ein bemerkenswertes Buch. « Kwame Anthony Appiah
»Ein halsbrecherischer, äußerst fesselnder Überblick über die Wege kultureller Überlieferung - wie Ideen, Geschichten und Lieder überleben, sich verändern, verschwinden, geliehen, verfeinert, übernommen und verbessert werden. Die Lektüre dieses Buches war wie ein Kurs in Geschichte der Geisteswissenschaften bei einem Weltklasse-Professor . . . Ich habe auf jeder Seite Sätze unterstrichen. « Anthony Doerr
Besprechung vom 09.05.2025
Auf das Recycling ist Verlass
Jedenfalls von unbestreitbarem Unterhaltungswert: Martin Puchner widmet sich der Ressource Kultur
In der Spätzeit des analogen Bildungsbürgertums, als man sich noch halblederne Enzyklopädien, Welt- und Kunstgeschichten ins Regal neben dem Klavier oder der Phonotruhe stellte, gab es Bücher, die definierten, was als hohe Kultur zu gelten hatte. Als Longseller besonders erfolgreich waren Bände wie der Theaterführer "Spielplan" des F.A.Z.-Kritikers Georg Hensel und zwei Werke aus der britischen Kultursphäre, die mit ihrem konzentrierten Plauderton höchste Autorität und Urteilssicherheit ausstrahlten: "Civilisation: A Personal View" (1969, auf Deutsch unterwertig betitelt als "Glorie des Abendlandes") des Kunsthistorikers, Museumsdirektors und Fernsehstars (Lord) Kenneth Clark und "The Story of Art" (1950, übersetzt als "Die Geschichte der Kunst" und bis heute im Buchhandel erhältlich) von (Sir) Ernst Gombrich, dem 1936 aus Österreich ausgewanderten Kunst- und Kulturhistoriker und langjährigen Direktor des Londoner Warburg-Instituts.
Seit Gombrichs und Clarks Zeiten ist der Begriff der "Kultur" - so wäre auch Clarks "Civilisation" zu übersetzen - teils unter den bestimmenden Einfluss der Ethnologie geraten, teils politisiert worden, vor allem durch Samuel P. Huntingtons Vision vom "Kampf der Kulturen". Hierarchien von "E" und "U" sind kollabiert, neue Medien und digitale Produktions- und Verbreitungsformen hinzugekommen. Volatile Rankings haben den fest gefügten Kanon erhabener Kulturgüter ersetzt. Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte müssen sich rechtfertigen oder werden gar rabiat "dekolonisiert", sollten sie sich weiterhin "eurozentrisch" geben.
Nun kommt der Literatur- und Theaterwissenschaftler Martin Puchner mit einem Buchtitel daher, der die Fußstapfen von Lord Clark und Sir Ernst noch um einige Schuhnummern übertrifft. Um es gleich zu sagen: Wie man dieses Buch eine "Geschichte der Welt" nennen kann, ist nicht leicht zu verstehen. In fünfzehn Kapiteln schildert es literarisch ansprechend und flott lesbar Episoden aus der Kulturgeschichte seit der ägyptischen Königin Nofretete aus dem vierzehnten Jahrhundert v. Chr. und der archäologischen Entdeckung ihrer berühmten Büste 1912. Vorzüglich ist das Buch immer dann, wenn eine Episode aus einem bestimmten Text oder einem OEuvre entwickelt wird: einer Inschrift des altindischen Kaisers Ashoka, dem Bericht des chinesischen Pilgers Xuanzang von seiner Indienreise um die Mitte des siebten Jahrhunderts, dem "Kopfkissenbuch" der japanischen Hofdame Sei Shonagon (um 1000), den Schriften ihres Zeitgenossen, des persischen Gelehrten Ibn Sina (Avicenna), und ein Jahrhundert später Hildegards von Bingen, den Lusiaden des portugiesischen Reichspoeten Luís de Camões, dem Werk des amerikanischen Kunstexperten und Japanologen Ernest Fenollosa (1853-1908), der Adaption der "Bakchen" des Euripides 1973 durch den nigerianischen Schriftsteller Wole Soyinka, der später als erster Afrikaner den Literaturnobelpreis gewinnen würde.
Weniger fundiert und originell sind Kapitel über weltgeschichtliche Großereignisse, über die man sich leicht und besser anderswo informieren kann, etwa die Eroberung Mexikos durch spanische Konquistadoren oder die Revolution auf Saint-Domingue (später: Haiti) zwischen 1791 und 1804. Nur vier Kapitel behandeln die Zeit seit dem siebzehnten Jahrhundert, darunter das einzige, das ein Werk der bildenden Kunst zum Ausgangspunkt nimmt: die ikonisch allgegenwärtige "Große Welle vor Kanagawa" des Hokusai aus den frühen 1830er-Jahren. Die "Vergangenheitswissenschaft" des neunzehnten Jahrhunderts, also der deutsche Historismus, wird auf einem allzu komplizierten Umweg über seine Rezeption bei George Eliot vorgestellt. Zu Puchners "Kultur" gehören weder Musik noch Architektur, weder Fotografie noch Film.
Wenn das Buch bei unbestreitbarem Unterhaltungswert keine einigermaßen zusammenhängende "Geschichte der Welt" entwirft, wenn man es auch nicht als Kulturgeschichtsschreibung auf der Höhe ihrer Möglichkeiten lesen kann, warum verdient es dennoch Aufmerksamkeit? Martin Puchner hat eine Botschaft, die er in ebenso schwacher wie wirksamer Dosierung über das ganze Buch verstreut. Er stellt sich dem, wie er schreibt, "Niedergang der Geisteswissenschaften in den Vereinigten Staaten und weiteren Ländern" entgegen, indem er erklärt, wie in den unterschiedlichsten Zusammenhängen Kultur als Ressource der Gegenwartsbewältigung genutzt worden ist.
Kultur ist ein Fundus an Sinn, dem alles Mögliche widerfahren kann. Sie kann - wie frühgeschichtliche Höhlenmalereien oder Pharaonengräber - jahrtausendelang "versiegelt" sein und plötzlich in eine Epoche hineinplatzen, die durch keinerlei Überlieferungsstrang mit der Entstehungsgesellschaft verbunden ist. Kultur ist widerständige Verfügungsmasse. Objekte werden durch Gewalt, Verschleiß oder Vernachlässigung zerstört, Manuskripte verbrannt, künstlerische Techniken vergessen. Dennoch kommt es immer wieder zu Renaissancen und Revivals, Neubelebungen und Umformulierungen. Sie sind "der Hauptmechanismus, über den überall Kultur erschaffen wird". Kultur, sagt Puchner, ist "ein gewaltiges Recycling-Projekt, in dem wir nur die Mittelsleute sind, die ihre Bruchstücke zur Wiederverwertung aufbewahren". Deshalb interessiert er sich besonders für "Wissensspeicher" und Trägermedien und endet konsequent mit der zögernd hoffnungsvoll beantworteten Frage: "Gibt es 2114 n. Chr. noch eine Bibliothek?"
In dieser Sicht liegt Kultur immer in der Vergangenheit. Sie ist ein fragiles Erbe, das zugleich Schatz und Last sein kann. Diejenigen, die sich als Nachzügler und Spätgeborene verstehen, haben es dem teils euphorisch, teils elegisch gestimmten Autor besonders angetan. Zur vertikalen Achse von Tradierung und Erinnerung kommt gleichberechtigt die horizontale Dimension interkultureller Übernahme und Anverwandlung hinzu. Dieses Rad hat Martin Puchner wahrlich nicht neu erfunden. Schon bei Goethe ist von Weltliteratur die Rede, seit mehreren Jahrzehnten spricht man von Weltkunst und Weltmusik. "Hybridität" war eine Leitvokabel der internationalen Kulturwissenschaften um 2000, "Kulturtransfer" und "Transkulturalität" erfreuen sich weiterhin verdienter Beliebtheit. Puchner warnt vor den "Puristen", die auf die Reinheit und Überlegenheit des Eigenen pochen und alles Fremde unter Verdacht stellen. Deshalb ist das Buch heute aktueller als bei seiner amerikanischen Erstveröffentlichung vor zwei Jahren. Nur düsterste Pessimisten hätten sich damals die Wucht vorstellen können, mit der eine obskurantistische und freiheitsfeindliche Staatsgewalt Martin Puchners Institution, die Harvard University, angreift. JÜRGEN OSTERHAMMEL
Martin Puchner: "Kultur". Eine neue Geschichte der Welt.
Aus dem Englischen von Enrico Heinemann. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2025. 432 S., Abb., geb.
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