
Matthias Politycki lädt mit seinen neuen Gedichten in seine Hamburger Stammkneipe "Meisenfrei" und zu einer Grand Tour, bei der die Kellnerin, der Postbote und die Poesie des Sake, das Alltagsparlando am Tresen und der hohe Ton zu einem unverwechselbaren Sound zusammenfinden. Da steht eine Verkostungsnotiz neben einem formstrengen Sonett, ein klassisches Kalendergedicht neben einem Psalmlied und einem Objet trouvé aus einer rauschenden Nacht. Die Liebe, der Tod und die vermeintlichen Banalitäten des Alltags, die großen Umbrüche der Gegenwart und die mächtigen Aufreger am Tresen, hier sind sie frank und meisenfrei in Form gebracht.
Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 11.10.2025
Alles knistert und ruht
Nie wieder wir: Der nach Wien geflohene Schriftsteller Matthias Politycki dichtet sich dort frei.
Von Thomas Thiel
Von Thomas Thiel
Auf seiner Flucht vor den neuen Reinheitsgeboten im deutschen Kulturbetrieb nach Wien, die er in dieser Zeitung ausführlich begründete (F.A.Z. vom 19. Juli 2021), hat der Schriftsteller Matthias Politycki auch das "Meisenfrei" zurückgelassen, seine Hamburger Stammkneipe, in der er jahrelang in einer vom Meinungsdruck gelösten Atmosphäre seine lyrischen Einfälle niederschrieb. Die legt er nun unter dem Kneipennamen in einem Gedichtband vor. Die im Titel anklingende Mischung aus Freiheit und Frechheit hat etwas Programmatisches. Erstmals gehe es in Polityckis Gedichten auch politisch und gesellschaftskritisch zu, verrät der Klappentext, glücklicherweise nicht nur.
Der Band versammelt neunundneunzig Gedichte. Das erste kündigt in biblischem Ton einen neuen religiösen Aufbruch des in der Zeit gestrandeten Menschen an oder zumindest einen Aufschwung des Herzens. Die Religion ist in der Folge immer wieder die Kontrastfolie für diverse Zivilreligionen, die von hoch droben auf den Deckel bekommen. Am stärksten sind die Gedichte, wo sie dieses Muster verlassen, in der Zwiesprache des lyrischen Ich mit einem anderen Menschen. Da wird der Rhythmus fließend und die Sprache sinnlich und leicht. Das gilt etwa für eine lyrische Szenenfolge über die Nachwehen einer Trennung. Ein Mann ruft eine Frau an, im Wissen, dass etwas zu Ende geht, sie will es ihm sagen, doch er fällt ihr ins Wort und gibt ihr zu verstehen, dass es nicht ausgesprochen werden muss. In der Folge heftet sich seine Erinnerung an die ihn umgebenden Gegenstände, die für den Dichter eine geradezu magische Bedeutung haben. Erst richtig platziert entfalte sich das "geheime Geflecht an Bezügen, das stille Ruhen in sich, das beständige Geknister mit all den anderen". Wird hier nun geknistert oder in sich geruht?
Trotz der losen Gruppierung verbindet die Gedichte kein thematischer Spannungsbogen. Manches wird episodenhaft fortgeführt. Bewegend sind die Gedichte über die Begegnungen des lyrischen Ich mit seiner alternden Mutter, die mit glasigen Augen durch ihn hindurch blickt, verträumt, als sähe sie ihn anderswo. Reisen führen den Autor unter anderem nach Kalkutta, wo er vor dem beizenden Geruch der Slums flieht, bis er in einer stillen Szene am Ufer merkt, dass die halbe Stadt auf einem schließlich doch als von ihm reizvoll empfundenen Fundament von Exkrementen steht. Gleißendes Glück erfährt er beim Anblick des weißblau karierten Himmels über dem Starnberger See. Es sind kleine profane Erleuchtungen im modernen Augenblicksbewusstsein, dem der Autor trotz aller religiösen Anrufungen nicht entkommt.
Viele Gedichte sind gefärbt vom Kontrast zwischen innerer Aufbruchbereitschaft und den faktischen Begrenzungen des Glücks. Politycki ergeht sich nicht in abstrakten Wortspielereien, er ist nahe an den Dingen und Menschen. Die Gedichte über die politische Korrektheit und ihre sprachlichen Ausfaltungen zählen nicht zu den lyrischen Höhepunkten. In Leitfäden und Leitartikeln wurde zum Thema schon vieles gesagt, und die Gedichte fügen dem wenig Neues hinzu. Immerhin verdankt man ihnen Wörter wie Betroffenheitsverwalter und Achtsamkeitsaktivist und eine zornige Suada gegen die in ihrer Vielfalt geeinten Herdenmenschen mit dem schlagenden Titel "Nie wieder wir".
In späteren Gedichten erfährt man, was die Gäste im "Meisenfrei" so umtreibt, wenn ihnen der Alkohol die Zunge löst, und dass auch in erotischer Hinsicht noch längst nicht alles gesagt ist vom Dichter, der sich den Mund nicht verbieten lässt. In diesen Gedichten verliert sich die leise Grundstimmung der ersten, was schade ist.
Das letzte Kapitel schlägt wieder den Bogen zur Zeit- und Vergänglichkeitsreflexion. Da steht der Dichter nun, erschöpft von der vielen Sinnsuche und ohne zählbares Endergebnis und weiß nicht, was es bedeuten soll. Auch hier sind die lyrischen Dialoge, die diesmal unter dem Titel "Liebe für Fortgeschrittene" stehen, die raffiniertesten. Vielleicht ist die Hoffnung, geliebt zu werden, die größte verbliebene Utopie.
Matthias Politycki:
"Meisenfrei".
99 Gedichte.
Hoffmann und Campe,
Hamburg 2025.
144 S., geb.
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