
Besprechung vom 23.04.2022
Süchtig nach Zerstörung
Mattia Insolia beschreibt ein sizilianisches Fegefeuer
Wird ein Erstlingswerk als "nahezu perfekter Roman" gelobt, ist Vorsicht geboten, drängt sich doch die grundlegende Frage auf, inwiefern Literatur überhaupt den Anspruch erheben kann (und will), perfekt zu sein. Daran, dass der kaum 27 Jahre alte italienische Literatur- und Filmkritiker Mattia Insolia sich darauf versteht, eine von emotionalen Abgründen, spektakulärer Gewalt und hoffnungsloser Tristesse getränkte Geschichte zu erzählen, besteht jedenfalls kein Zweifel. Die Begeisterung, die sein aus allen Löchern schießender Roman "Die Hungrigen" bei italienischen Kritikern hervorgerufen hat, ist zumindest in dieser Hinsicht erklärbar.
Bei Mattia Insolia kämpfen die Brüder Paolo und Antonio auf eigene Weise gegen soziale Perspektivlosigkeit und seelische Verelendung: Ihre Mutter hat das Leben im sizilianischen Camporotondo, einem "Auswurf baufälliger Wohnhäuser im süditalienischen Nirgendwo", und ihren alkoholkranken, prügelnden Mann längst in Richtung Mailand verlassen. Letzterer erstickt kurze Zeit später beim verunfallten Versuch, das Fernsehprogramm umzuschalten, am eigenen Erbrochenen. Paolo, der ältere der Brüder, sorgt seitdem als Hilfsbauarbeiter mehr schlecht als recht für das Auskommen, vor allem schafft er die benötigten Vorräte an Alkohol und Cannabis herbei. Paolos "Sucht nach Zerstörung" gilt jeder Emotion, jeder Schwäche, jeder Autorität in einer Welt, die es sich mit ihm verscherzt hat: "Er liebte es, Leute wütend zu machen. Ihr Frust sorgte für ein Kitzeln in seinem Bauch und manchmal bekam er davon sogar einen Ständer."
Mattia Insolias Debütroman zeugt von einer bemerkenswerten Sicherheit, die Faszination für abstoßende Typencharaktere und schockierende Szenen in Sprache zu fassen, brennende Hunde, zersplitternde Knochen, sexuelle Misshandlung und übelste verbale Erniedrigungen inbegriffen. Paolos Bruder Antonio hält in diesem Schreckensszenario als Gegenpol her, aber auch diese Figur schnitzt der Autor mit eher grobem Keil. Die zarte Liebe zu einem dicklichen Mädchen muss Antonio vor seinem Bruder ebenso verstecken wie seine Liebe zur Literatur, insbesondere zu John Williams' "Stoner".
Wie Paolo und Antonio sich in harter brüderlicher Liebe wie "ausgehungerte Wölfe" durch eine unerbittlich feindliche Außenwelt schlagen, erzählt Mattia Insolia derweil nicht ohne Spannung. Geschickt wechselt der Autor zwischen auktorialer Perspektive und der subjektiven inneren Weltwahrnehmung seiner Figuren, reiht in parallel erzählten Handlungssträngen planvoll Cliffhanger an Cliffhanger. Die Bildsprache seines sozialpsychologischen Szenarios ist dabei derart schematisch entworfen, dass man in jedem Absatz die entsprechende Film- oder Serienszene vor dem inneren Auge sieht. Ob das für einen "nahezu perfekten Roman" ausreicht, ist allerdings höchst fraglich. Mattia Insolias Sprache und damit auch die Übersetzung ins Deutsche weisen in nichts über sich selbst hinaus. Grautöne, Widersprüchlichkeit oder auch nur Nuancen der Wahrnehmung werden hier konsequent aufgegeben zugunsten einer gerade gegen Ende zunehmend pathetischen Welteinteilung in Gut und Böse. Mit dem Soziopathen Paolo, der seine Homosexualität hinter blinder Wut und Gewalt an Frauen zu verbergen sucht, wird es kein gutes Ende nehmen. Nur die Flucht des jüngeren Bruders Antonio aus dem "Fegefeuer" Süditaliens bietet noch einen Hoffnungsschimmer in diesem allzu düsteren Abgesang auf eine aus den Fugen geratene Gesellschaft. CORNELIUS WÜLLENKEMPER Mattia Insolia: "Die Hungrigen". Roman.
Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker. Verlag Karl Rauch, Düsseldorf 2022.
205 S., geb.
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