
Ein Streifzug durch die Weltliteratur, von Shakespeare über Franz Kafka bis zu Salman Rushdie - und eine Lehre des aufmerksamen Lesens
Nicht nur der Teufel steckt im Detail, auch das Geheimnis großer Literatur - wenn man dafür ein Auge hat. Michael Maar, einer der renommiertesten deutschen Literaturkritiker und -historiker, zeigt, was die Werke der Weltliteratur dem aufmerksamen Leser en passant offenbaren: wie sich die Methode Sherlock Holmes' von derjenigen Sigmund Freuds unterscheidet, welches deutsche Vorbild hinter Nabokovs Lolita hervorschimmert und worum es in Stevensons «Dr. Jekyll und Mr. Hyde» und in Stokers «Dracula» eigentlich geht. Was missfiel Mark Twain an Jane Austen, und wie nimmt Virginia Woolf in «Mrs. Dalloway» ihr eigenes Schicksal vorweg? Daniel Kehlmann, Jonathan Franzen, Salman Rushdie: Auch in den Werken der Gegenwart funkeln die Details. Und das violette Hündchen? Es taucht ganz beiläufig in Tolstois «Krieg und Frieden» auf - und begleitet uns durch das Buch.
Michael Maar führt nicht nur bedeutende Werke und ihre Schöpfer lebhaft vor Augen; er ist selbst ein großartiger Erzähler und versammelt eine beeindruckende Fülle an fiktionalen wie ganz realen Begegnungen, Verwicklungen, Geschichten. Dabei wird das Detail zum Ausgangspunkt einer Entdeckungsfahrt durch die Weltliteratur - die nicht zuletzt zeigt, wie sehr es sich lohnt, die großen Romane immer wieder neu zu lesen.
Besprechung vom 07.11.2025
Was haben die großen Autoren zu verbergen?
Adorno kann gar kein Teufel sein, bei der Frisur! Michael Maar untersucht in seinem Essayband "Das violette Hündchen" die Weltliteratur
Was bleibt im Gedächtnis von den Romanen, die man vor vielen Jahren gelesen hat? Meist sind es einzelne Szenen und Details. Es gibt sogar Schriftsteller, die ihre Werke womöglich nur wegen der Details geschrieben haben, allen voran Vladimir Nabokov. Der ist denn auch nicht zufällig der Hausheilige des Literaturkritikers Michael Maar, dessen neues Buch sich der Kunst des literarischen Details widmet und ebenso wie der Vorgänger "Die Schlange im Wolfspelz" ein lustvolles und kenntnisreiches Schweifen durch die Literatur bietet.
Das titelgebende "violette Hündchen" - Maar liebt tierische Titel - führt ein beschauliches Dasein als nebensächliches Detail in Tolstois "Krieg und Frieden". Es trage zur Handlung des Romans nichts bei, und sein Fehlen hätte "kein Leser als Mangel empfunden". Auf der anderen Seite gibt es Details, die der Schlüssel für ein ganzes Werk sein können, wie Prousts Madeleine. Schon hier wird deutlich: Das Detail lässt sich nicht auf einen Nenner bringen, es ist ein Alleskönner. Wie sollte eine Landschaft beschrieben, eine Atmosphäre beschworen, ein symbolisches Bedeutungsnetz geknüpft oder Komik erzeugt werden, wenn nicht mittels Details? So ist die ganze Literatur voller stiller oder sprechender Details, und Maar hält sich nicht lange auf mit Definitionsfragen, sondern erklärt bündig: "Starke Details erkennt man daran, dass man sie am Seitenrand mit einem Bleistiftkreuzchen markiert hat." Auch bei der Lektüre seines Buches bekommt der Bleistift des Rezensenten einiges zu tun, etwa wenn Maar in einem Roman "Schwebeteilchen des Zeitgeists" findet, einen "kleinen Luftzug des Jenseits" in Nabokovs Werken verspürt oder über Hemingways Dialoge schreibt: "Smalltalk dient nicht der Wahrheitsfindung."
Im herausragenden Essay über Virginia Woolfs Roman "Mrs. Dalloway" gelingt es ihm, seine Ausführungen auf ein tatsächlich stupendes Detail zulaufen zu lassen, das auf den ersten Blick wie ein erzählerischer Fauxpas wirkt, auf den zweiten aber die "geheime Identität" der beiden Hauptfiguren offenbart - eine verblüffende Einsicht. Wunderbar auch das Plädoyer für Faulkner. Maar nimmt sich den Roman "Licht im August" vor und zeigt mithilfe langer Zitate die psychologische Raffinesse des hierzulande kaum noch gelesenen Südstaatenautors. Immer wieder schlägt Maar auch reizvolle Bögen zwischen den Autoren, wenn er etwa "bedenkliche Bankette" von Shakespeare bis Tania Blixen zusammenstellt oder den hochdezenten "Gedanken-Aquarellisten" Henry James mit der krassen Ágota Kristóf konfrontiert, die in schroffer Prosa die Menschenwelt als Hölle beschreibt.
Literarische Geheimtipps wird man allerdings kaum finden. Maar hält es mit den Großen und Bewährten. Wer heute die Finessen einer Jane Austen lobt, ist aber vielleicht ein bisschen spät dran. So inszeniert Maar lieber einen streitfreudigen Dialog zwischen einem Austen-Fan und einem nicht weniger detailkundigen Austen-Verächter, denn seit Mark Twain gibt es ja auch viele Leser, die Austens Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande wenig abgewinnen können. Und Maar weiß ja auch, dass es das Lob entwertet, wenn es notorisch wird. Deshalb ist seine Bewunderung nicht vorbehaltlos; gerne weist er mit humoristischem Unterton auf die Schwachstellen oder Längen mancher Meisterwerke hin, was zudem den Eindruck erweckt, dass er besonders genau hinschaue und sich vom literaturgeschichtlichen Rang nicht blenden lasse.
Solche beherzten kleinen Attacken können aber auch mal schiefgehen. Im Kapitel "Wasserglas mit Bläschen" rühmt Maar Musils Metaphern und Vergleiche im Allgemeinen, um im Konkreten mit ihnen zu hadern. Dabei zeigt sich, dass er Musils oft ironischen Einsatz sprachlicher Bilder nicht ganz verstanden hat. Das Übertriebene, mitunter sogar Schiefe oder Unanschauliche ist gewollt - man denke an die überspitzten, gleichsam kubistischen Metaphern im ersten Kapitel des "Mann ohne Eigenschaften", aus denen sich nur scheinbar ein "authentisches" Bild der Stadt Wien und der Wetterlage ergibt. Und auch wenn Maar es nicht wahrhaben will: Abgestandenes Wasser setzt in einem Glas winzige Bläschen an; da hat Musil durchaus keinen "bad image day" gehabt.
Maar widmet nicht nur Arthur Conan Doyle ein Kapitel, sondern leiht sich gelegentlich auch selbst die Holmes-Lupe aus. Was haben die großen Autoren zu verbergen? Im Kafka-Kapitel stellt er die Frage in den Raum, ob die groteskkomische Prügler-Szene im "Process", wo Schergen in Ledermontur in einer Rumpelkammer die jammernden Wächter auspeitschen, womöglich als autobiographisches Bekenntnis zum homosexuellen Sadomasochismus zu lesen sei. Diese These dürfte für weniger Furore sorgen als Maars Entdeckung einer deutschen Ur-"Lolita", die er hier ebenso noch einmal darlegt wie seine Indizienbeweisführung im Fall Thomas Manns, auf welche die Thomas-Mann-Philologie allerdings mit "zwanzig Jahren beredten oder betretenen Schweigens" reagiert habe.
In den Romanen und Erzählungen Manns hat Maar ein Netz von Details entdeckt (eine "Blutspur"), die auf eine reale Verbrechensverstrickung des späteren Zauberers in Süditalien hindeuten könnten. Irgendetwas Ungeheuerliches musste geschehen sein, weil den Schriftsteller das Grauen schüttelte bei der Vorstellung, dass die Nationalsozialisten seine frühen Tagebücher lesen könnten, die bei der überstürzten Emigration 1933 tatsächlich kurzfristig in ihre Hände fielen. Und es gibt für Maar entschieden zu viele Messerchen und Blutströme in Manns Erzählwerk, um nicht auf verhüllten Konfessionszwang zu schließen. Gut, dass der Literaturdetektiv sich bisher noch nicht die Romane Sebastian Fitzeks vorgenommen hat, um darin Beichtgeheimnisse einer beladenen Seele zu finden.
Überzeugender ist der Essay über Thomas Mann und seinen musikalischen Berater Adorno. Lange hieß es ja, der Leibhaftige im Teufelsgespräch des "Doktor Faustus" trage seine Züge. Dies kann Maar - eine schöne Detailpointe - mit Blick auf Adornos Frisur klar widerlegen. Er unterschlägt aber Sätze des Romans, die ebenso klare Anspielungen auf Adorno sind, wenn es maliziös heißt, die Teufelserscheinung sehe plötzlich aus wie ein "Intelligenzler", ein "Theoretiker und Kritiker, der selbst komponiert, soweit das Denken es ihm erlaubt".
Einen Autor gibt es, den man nicht in Maars Kanon vermutet hätte. Er preist den heute vergessenen Werner Bergengruen dafür, dass er in seinen Erzählungen den "Geheimschnaps Komik" ausschenke. Wie kommt Maar auf ihn? Womöglich hat Vater Paul Maar, dem das Buch gewidmet ist, einen Erinnerungsfaden ausgerollt. "Mein Vater las ihn in der Oberstufe im Gymnasium, das alte Reclam-Heft zeigt noch seine Unterstreichungen", erfährt man in den Anmerkungen, die im Übrigen mit einer Fülle lesenswerter Ergänzungen und anekdotischer Abschweifungen aufwarten. Man muss Michael Maars passionierten Streifzügen und argumentativen Finessen nicht in jedem Fall zustimmen, aber man folgt ihnen immer mit Interesse. Seine Begeisterung für das literarische Detail steckt an und schult den Blick. WOLFGANG SCHNEIDER
Michael Maar: "Das violette Hündchen". Große Literatur im Detail.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. 592 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.