Besprechung vom 02.07.2025
Herz im Schraubstock
Nicolas Mathieus "Jede Sekunde" erzählt von einer Affäre, die dem französischen Autor einigen Ärger eingebracht hat
Wie soll man schreiben, ohne das Milieu zu verraten, aus dem man kommt? Diese Frage stellt sich Nicolas Mathieu, der transfuge de classe, Klassenflüchtling aus den Vogesen und neben Édouard Louis einer der literarischen Ziehsöhne von Annie Ernaux, immer wieder. Und er findet, dass Schreiben etwas sehr Einschüchterndes ist, wenn man aus bescheidenen Verhältnissen kommt. Aber wie auch Louis orientiert er sich an den soziokulturellen Großmeistern Pierre Bourdieu und Didier Eribon und folgt ihrer Spur.
Nachdem Mathieu 2018 überraschend den Prix Goncourt für seinen zweiten Roman "Wie damals ihre Kinder" erhalten hat, ein beeindruckendes soziales Generationenporträt aus der vernachlässigten ehemaligen Industrielandschaft Lothringens, wurde er einer der wichtigsten Vertreter autofiktionalen Schreibens seiner Generation. Gleichzeitig mit der Gelbwestenbewegung hat er vom Rand der Gesellschaft, von den Verlierern der Automatisierung und Globalisierung, von einer verlorenen Generation berichtet und dem französischen Klassensystem und als arrogant empfundenen Pariser Epizentrum einen auch sprachlich drastischen Spiegel vorgehalten.
Danach hat er eher unfreiwillig Furore in den Klatschblättern gemacht wegen einer heftigen Liebesaffäre mit Charlotte Casiraghi, der Tochter von Caroline von Monaco - "L'amour au grand jour", wie "Paris Match" sogleich titelte. Dem strahlend verliebten Autor wurde daraufhin von seinen Fans Sozialverrat vorgeworfen, hatte er sich doch mit dieser Liebe weit von seinem Herkunftsmilieu und dessen Codes entfernt.
Nun hat er vermutlich dieser Liebe ein Mausoleum errichtet, das in seiner sprachlichen wie inhaltlichen Intensität erschüttert: "Jede Sekunde". Selten hat man solch gemeißelte Sätze über die Liebe und das Begehren gelesen. Schon das Motto von Victor Hugo gibt den Ton vor: "Unausweichlich gehöre ich / der dunklen Nacht / die Liebe heißt."
Es sind bemerkenswerte poèmes en prose, die Nicolas Mathieu hier vorlegt, sprachlich geschliffene Mikrofiktionen, glühende Bekenntnisse und in Schätze verwandelte Banalitäten. Der Autor beginnt seine Klage nach dem Ende der Beziehung, und waidwund schreit er seine Verletztheit heraus, heult den Mond an. Seinen Glauben an die Literatur hat er im Schmerz verloren: "Alle Bücher sind Totenstädte", für ihn gibt es keine wiedergefundene Zeit, sie ist für ihn eine fixe Idee aus Literaturseminaren. Merkwürdigerweise glaubt er aber an Instagram, hat er der Geliebten doch "Rasierklingen" durch den digitalen Raum geschickt, um ein "Schaufenster" für ihre Liebesgeschichte zu haben und anderen eine "Show zu bieten, das Spektakel einer beneidenswerten Beziehung". Er schreibt selbst, dass ihrer Verbindung ohne diese "Vitamine" vielleicht die Kraft ausgegangen wäre, dass er so weniger allein war mit seiner heimlichen Liebe.
So schwer das auch zu verstehen ist, so leicht schlagen einen die glasklaren sehnsuchtsgetränkten Sätze in den Bann. Diese Liebe in Hotelzimmern, in denen es "heiß und schwül ist wie in einem Roman von Marguerite Duras", ist nicht auf Dauer angelegt, muss heimlich bleiben, ist "gestohlene Zeit", weil die Geliebte verheiratet ist, zwei Kinder hat, während er geschieden ist. Der Alltag wird so weit wie möglich ausgeklammert, die Liebe findet im Bett statt oder am Telefon, wenn er auf Lesereise ist. Es ist ein "Sommer im Futur": "Kaum sagte man morgen oder heute Abend, fühlte es sich schon wie eine Erinnerung an." Die Leidenschaft der körperlichen Beziehung wird der "Vorahnung des Endes" abgerungen, der "Gewissheit, dass uns die Zeit davonlief".
Aber auch: "Wenn ich in deine Gedanken einziehen will, stehe ich vor verschlossenen Türen." Er legt sich einen Vorrat an von der Geliebten, die er verlieren wird: "Wir werden nichts aus dieser Beziehung machen, keine Kredite aufnehmen, kein Familienessen organisieren, keine Fotoalben anlegen." Schon früh spürt er, dass sie vielleicht die "Sonne" seines Lebens ist. Nach der schmerzlichen Trennung versucht er verzweifelt, ein Leben "außerhalb des weißen Kreises", der ihr Land war, zu beginnen, die Geliebte mit "Campari, Wein und Landschaften zu übermalen, bis nichts bleibt". Genug Erinnerungen für zehn Romane, meint der Erzähler, und wir dürfen gespannt sein.
Es ist das Denkmal einer Liebe, die sich für den Erzähler in seinen Vierzigern deutlich anders anfühlt als die Beziehung zu jener Frau, mit der er den größten Teil seines Erwachsenenlebens verbracht hat. Immer wieder gibt es Rückblicke auf die eigene Jugend und das erotische Erwachen an Freibadnachmittagen, aber auch auf den Alltag mit seinem einzigen Kind, den "ehelichen Hausarrest", der die Liebe allmählich unterminiert hat.
Auch der eigene Vater und dessen Verfall wird Gegenstand dieser Miniaturen, und bei diesen Themen erkennen wir den Sound von "Wie damals ihre Kinder" wieder und sind abermals erstaunt über die kristalline Sprache, die filmisch genaue Beobachtung, die pointillistische Wiedergabe, die kameenhafte Figurenzeichnung. Der einst gefürchtete Patriarch aus einer fast versunkenen Welt, "in der die Männer einfache Pflichten zu erfüllen hatten", entschwindet allmählich in ein Schattenreich und lächelt, schmächtig geworden, "unendlich sanft, weil schwach"; die Vater-Kind-Rolle hat sich verkehrt.
Die französische Ausgabe ist in wunderschöner Aufmachung erschienen: mit ganzseitigen Illustrationen von Aline Zalko, einer bekannten Künstlerin. Außerdem ist der fragmentarische Charakter von Mathieus Protokollen und Gefühlsreportagen durch Absätze und Majuskeln im Original viel auffälliger in Szene gesetzt. Warum der schöne Titel "Le ciel ouvert" (Der offene Himmel) zu "Jede Sekunde" geworden ist, erschließt sich nicht. Es lohnt sich, den schöneren und sogar preisgünstigeren Urtext aufzuschlagen. BARBARA VON MACHUI
Nicolas Mathieu:
"Jede Sekunde".
Aus dem Französischen von André Hansen und Lena Müller. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2025. 94 S., geb.
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