Besprechung vom 22.03.2025
Regenwurm im Museum
Die italienische Autorin Noemi Vola stellt in ihren Büchern oft die kleinen Dinge des Lebens in den Vordergrund. Nun sind zwei ihrer Werke auf Deutsch erschienen.
Von Anna Vollmer
Von Anna Vollmer
Das Leben hält eine ganze Reihe von Frustrationen bereit. Oft muss man Tränen vergießen über kleine Widrigkeiten, manchmal sogar über große Verluste. Dem Regenwurm kann es etwa passieren, dass ihm die zweite Hälfte seines Körpers abhandenkommt. Darüber kann er zu Recht traurig sein - trotzdem geht das Leben auch in kürzerer Version weiter. Das sind die positiven Seiten des Regenwurmdaseins. Und auch Tränen werden irgendwann getrocknet: Wer weint, ist nicht allein, denn wer weinen muss, wird überall auf der Welt verstanden, umarmt und getröstet. Wer weint, braucht keine Worte.
Die italienische Illustratorin Noemi Vola, geboren 1993, beschäftigt sich oft mit den kleinen, ein wenig tragischen Dingen des Lebens und weiß, dass auch das Unscheinbare erzählenswert ist. Nun sind zwei ihrer Bücher auf Deutsch erschienen. "Wenn du weinst wie ein Wasserfall" (das im Original den zu ihrer Illustration viel passenderen Titel "Wenn du weinst wie ein Springbrunnen" trägt) ist eine Geschichte darüber, dass Tränen ganz normal und oft gar nicht schlecht sind: Wer viel weint, kann mit ihnen den Boden putzen, den Hund baden oder Nudeln kochen.
Volas zweites, deutlich dickeres Buch, "Über das unglückliche Leben der Regenwürmer - Ein relativ kurzes naturwissenschaftliches Traktat", handelt von einer unterschätzten, oft als eklig wahrgenommenen Tierart - und ist doch viel mehr als eine biologische Abhandlung. Zwar lernen wir, warum der Regenwurm keine Raupe ist, wer seine Verwandten sind und dass sich sein Körper in Segmente unterteilt. Doch verhandelt Vola in ihrem Buch auch existenzielle Themen und stellt anhand der Superkraft des Regenwurms, in der Mitte zerrissen doch weiterleben zu können, einige ganz große Lebensfragen: "Wäre ich immer noch ich, auch wenn ich mir nicht mehr ähnlich sähe? Kann man die ganze Zeit jemand sein und dann, ganz plötzlich, zu jemand anderem werden?"
Vola malt meist mit Filzstift, was gut zu den Dingen passt, von denen sie erzählt. Denn der Filzstift gilt als etwas unfein, so wie Tränen und Regenwürmer ja auch. Dabei sind alle drei alltäglich und werden vielleicht gerade deshalb verschmäht. Zu Unrecht, wie Vola auf lustige, kluge und tröstende Weise zeigt. Ihre mitunter comichaften, einfachen Illustrationen handeln von der Komplexität und Schönheit des Lebens. Und zum Leben gehören nicht nur fröhliche Tage. Für die eigene Traurigkeit, so vermittelt Vola in "Wenn du weinst wie ein Wasserfall", muss man sich nicht schämen. Man muss auch nicht an ihr verzagen, sondern kann sie vielleicht sogar ein bisschen mögen.
Falls nun der Verdacht aufkommen sollte, die Illustratorin habe ein zeitgenössisches Selfhelp-Kinderbuch verfasst, das seine Leserinnen und Leser dazu auffordert, am Schmerz zu wachsen oder die Krise als Chance zu begreifen: Das hat sie nicht, im Gegenteil. Dafür sind ihre Ideen viel zu skurril. Immer wieder schafft Vola absurde, um die Ecke gedachte Verbindungen: Tränen dienen nicht der Selbstoptimierung, sondern lassen Birnbäume wachsen, aus deren Früchten man wiederum leckere Marmelade kochen kann. Traurigkeit wird bei Vola nicht pathologisiert, manchmal ist sie einfach nur unvermeidbar. Da kann man noch so sehr versuchen, die Tränen zurückzuhalten, wie der Regenwurm in Volas wahnsinnig lustiger, sich über mehrere Seiten erstreckender Einstiegsszene.
Denn auch hier, in "Wenn du weinst wie ein Wasserfall", geht es um einen Regenwurm, der bitterlich Tränen vergießt, so wie viele von Volas Figuren in ihren Büchern immer wieder auftauchen und eine ganz eigene Welt aus Fröschen, Schlangen und eben Regenwürmern bilden. Hat man alles über deren unglückliches Leben gelesen, weiß man auch, warum die Autorin diese Tiere so liebt: Trotz ihrer denkbar schlechten Ausgangsbedingungen als gift-, zahn-, ja insgesamt sehr wehrlose Wesen haben Regenwürmer die natürliche Selektion bisher erfolgreich überstanden. Ob einer der wenigen, die sie schätzten, deshalb Charles Darwin war? Oder fand der Begründer der Evolutionstheorie sie einfach nur wahnsinnig hübsch? Schließlich glänzt die Haut des Regenwurms in einer ganzen Reihe von Pinktönen.
Volas Bücher zitieren nicht nur Darwin, sondern stecken überhaupt voller Referenzen: an den italienischen Alltag (der Bandwurm kocht sich im Hundebauch, den er befallen hat, seinen Kaffee mit einer Mokka), an die Popkultur (es gibt Regenwürmer, die wie E.T., Sailor Moon oder Charlie Brown aussehen) und berühmte Künstlerkollegen. In einer Szene schaut der Regenwurm sich im Museum Apfel und Birne des italienischen Designers Enzo Mari an.
Dem Buch ist ein Zitat der finnischen Autorin Tove Jansson vorangestellt: "Aber vielleicht findet das Kopfende [des Regenwurms] es schön, dass es nichts mehr hinter sich herziehen muss, doch wer weiß, das ist nämlich nicht sicher. Wenn jemand jederzeit in der Mitte auseinander gehen kann, ist nichts ganz sicher." Mit dieser Unwägbarkeit, das wissen Jansson und Vola, muss nicht nur der Regenwurm zurechtkommen. Darüber kann man schon mal ein paar Tränen vergießen.
Noemi Vola: "Über das unglückliche Leben der Regenwürmer".
Aus dem Italienischen von Alexandra Titze- Grabec. Verlag Antje Kunstmann, München 2025. 264 S., geb., 24,- Euro. Ab 10 J.
Noemi Vola: "Wenn du weinst wie ein Wasserfall".
Aus dem Italienischen von Andrea Grill. Leykam Verlag, Graz 2025. 44 S., geb., 18,50 Euro. Ab 4 J.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Über das unglückliche Leben der Regenwürmer" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.