Besprechung vom 06.12.2019
Die größte aller Krankheiten?
Einblicke in die molekulare Traumfabrik: David A. Sinclair will den Tod abschaffen und das Altern gleich mit entsorgen. Ein Plan, an dem sich die Geister scheiden.
Die Jugend, sagte einmal der unsterbliche Charlie Chaplin in seiner unverwüstlichen Leichtigkeit, wäre so viel schöner, wenn sie erst später im Leben käme. Wir sind offenbar so weit. Oder sagen wir - beinahe. Ewige Jugend und damit ewiges Leben, im Diesseits wohlgemerkt, der ewige Menschheitstraum seit der Antike. Der Körperkult der Griechen, wir erinnern uns. Und nun also David Sinclair, Professor an der Harvard Medical School in Boston, fünfzig Jahre alt, ungarisch-australischer Abstammung, Familie, Kinder, lebenssüchtig, todesfürchtig und einer der wissenschaftlichen Pioniere jener Disziplin, die mit dem Begriff molekulare Alternsforschung höchst unzureichend beschrieben ist.
Denn die Alternsforschung, die er in seinem Buch zu Ehren kommen lässt, müsste eigentlich Unsterblichkeitsforschung heißen. Das wäre natürlich ein Affront, mindestens gegen die Religionen, die sich in ihrer jenseitigen Kompetenz wohl kaum die Butter vom Brot nehmen lassen wollen. Aber auch die Wissenschaft oder der Teil der naturwissenschaftlichen Medizin, der sich als seriös versteht, dürfte sich mit einem Lehrstuhl für Unsterblichkeitsforschung derzeit kaum anfreunden.
Sinclair sitzt also zwischen den Stühlen. Weshalb man ihm, der Seriosität und Kollegialität wegen, sicher angeraten hat, seinen Professor-Titel unbedingt mit auf das Cover zu nehmen. Denn es stimmt ja: die Empfindlichkeiten beim Thema Unsterblichkeit sind erdrückend. Der Versuch, den Tod mit modernen molekularbiologischen Techniken zu überwinden, gehört zu den laufenden Projekten der Wissenschaften, die gewissermaßen unter dem Radar von Öffentlichkeit, Kirche und Politik abzulaufen haben. Aber sie laufen eben. Und davon handelt dieses Buch in beeindruckender Ausführlichkeit.
Der Tod selbst, das Sterben oder gar Auferstehung spielen für Sinclair keine Rolle. Nicht, weil er als Genetiker keine Meinung dazu hätte, sie sind für seine konkreten Planspiele der Unsterblichkeit einfach überflüssig. Ausgangspunkt für ihn, sieht man von seinen zugegeben streng naturwissenschaftlich inspirierten Konzepten ab, ist vielmehr eine Art Technikreligion, die sich seit einiger Zeit fast rauschhaft im Silicon Valley auszubreiten scheint und deshalb auch immer wieder als Lebenstraum der größten, reichen Freaks ihren Weg in die Schlagzeilen bringt. Der Transhumanismus ist ganz nah dran.
Sinclair schreckt allerdings davor zurück, sich offen dazu zu bekennen. Eher noch scheint er sich auf den ersten Blick mit der längst etablierten Anti-Aging-Bewegung gemein zu machen, worauf der deutsche Titel "Das Ende des Alterns" hindeutet - und worauf auch seine Aktivitäten als Start-up-Unternehmer und Wissenschaftsberater hindeuten. Doch das Kultige, geradezu Erlösungsfanatische der Transhumanisten gefällt ihm ganz sicher, was Sätze wie die folgenden belegen: "Als Spezies leben wir heute viel länger als je zuvor. Aber nicht viel besser. Überhaupt nicht. Im Laufe der letzten hundert Jahre haben wir uns zusätzliche Jahre verschafft, aber kein zusätzliches Leben - jedenfalls kein Leben, das sich lohnen würde." Der Autor fährt buchstäblich alles auf, um beweisen zu können, dass es etwas Besseres gibt.
Und das ist, wissenschaftlich gesehen, tatsächlich eine ganze Menge. Zellbiologie und Genetik, vor allem aber die Epigenetik haben in der jüngeren Vergangenheit atemberaubende Fortschritte im Labor gemacht (und manche in klinischen Versuchen), die für Außenstehende mehr nach Science-Fiction aussehen als nach Realität. Sinclair ist ein Insider. Er verpackt seine Schilderungen der "Überlebensmaschinerie" und seiner "Informationstheorie des Alterns" zwar in ein manchmal schon verschmockt wirkendes autobiographisches Kostüm eines Jugendwahnsinnigen, das in eine Liste seiner täglichen Anti-Aging-Bemühungen mündet (täglich 1 Gramm NMN, Resveratrol im Joghurt, Metformin, Vitamine, Blutabnahmen monatlich, Fitnessstudio). Aber er gibt sich erkennbar Mühe, die molekularbiologisch komplexen Vorgänge, die aufzuklären er sich seit fünfundzwanzig Jahren anschickt, bis in die Details nachvollziehbar zu machen.
Betriebsblind ist er dort, wo er über das schädliche "epigenetische Rauschen" schreibt und meint, mit dem Zurückdrehen der biologischen Uhr seien alle Probleme der Welt auf einmal gelöst. Jede Zelle mag beliebig umprogrammierbar sein, dafür gibt es genügend Beispiele aus der Stammzellforschung, aus Tierversuchen und menschlichen Zellkulturen. Aber der Weg, einen Organismus wie den des Menschen, der evolutionär einen Großteil seiner Regenerationsfähigkeit offenkundig verloren und dafür Anpassungsfähigkeit sowie die erstaunliche Langlebigkeit von hundertzwanzig Jahren gewonnen hat, physiologisch von siebzig Jahren auf zwanzig zu verjüngen - und das in einem unendlichen, eben unsterblichen Kreislauf -, liegt doch noch völlig im Dunkeln.
Sinclair weiß das natürlich, auch, dass Klonen keine echte Alternative ist und dass selbst diese Versuche inzwischen mehr oder weniger versandet sind im Designerbaby-Horror, der kulturübergreifend die Öffentlichkeit schon beim Gedanken daran erfasst. Anders als er selbst, darauf verweist Sinclair, haben die meisten Menschen offenbar "keine Angst davor, ihr Leben zu verlieren; sie fürchten ihr Menschsein zu verlieren".
Dieser Satz hätte für ihn das Ende des Nachdenkens bedeuten können. Auch der Hinweis seines eigenen Sohnes, der ihn mit der Frage beunruhigte, wo all die umprogrammierten, unsterblichen, ewig jungen Menschen auf diesem Planeten eigentlich leben - und sich reproduzieren - sollen ohne die sichere Perspektive eines ökologischen und sozialökonomischen Kollapses. Wie also kommt Sinclair darauf, seine Star-Trek-Welt sei eine nicht nur kühne, sondern wünschbare Vision?
Der Harvard-Forscher flüchtet sich leider zu schnell aus solchen Fragen. Wirklich überzeugen können seine halbwegs sentimentalen Erklärungsversuche nicht, wenn er etwa erläutert, warum wir bereit sein müssen, unsere Ururenkel zu treffen - außer mit der naheliegenden Begründung, die tatsächlich auch das ganze Forschungsgebiet wie eine hegemoniale Macht antreibt: der Wunsch nämlich auf ein Älterwerden und Sterben ohne Schmerz und Siechtum. Schon aus diesem Grund geht Sinclair den radikalen Weg und erklärt das Altern selbst zur "größten aller Krankheiten", die ausgerottet werden muss. Für ihn, so schreibt er, steht die Alternsforschung heute da, wo die Krebsmedizin in den sechziger Jahren stand. Damals war man sich allerdings auch sicher, dass der Krebs bald ausgerottet werden könnte.
Schon René Descartes, der große Körpermaschinist, glaubte im siebzehnten Jahrhundert, den Tod schon innerhalb der nächsten zwei Generationen überwunden zu haben. Man darf also skeptisch bleiben, wenn Sinclair den ewigen Jungbrunnen bis zum Ende des Jahrhunderts verspricht. Ernst nehmen aber, das legen seine bemerkenswerten Einblicke in seine molekulare Traumfabrik nahe, sollte man die Unsterblichkeitsbemühungen der Lebensingenieure sehr wohl.
JOACHIM MÜLLER-JUNG
David A. Sinclair: "Das Ende des Alterns". Die revolutionäre Medizin von morgen. Unter Mitarbeit von Matthew D. LaPlante. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. DuMont Buchverlag, Köln 2019. 512 S., Abb., geb.
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