
Wie in einem Paradiesgarten durchstreifen Tiere Rilkes Werk. Da tritt das fabelhafte Einhorn hervor, Delphine springen, Flamingos neigen ihr Haupt, Löwen brüllen, Schwäne gleiten. Hunde allerlei Art schmücken Landgüter oder verwildern in Städten. Der Dichter dreht gestürzte Marienkäfer auf der Fensterbank um, damit sie weiterleben können, und erfährt im Vogelflug seine Idee des »Weltinnenraums«. Auch wenn die Sphäre der Engel unzugänglich bleibt, geben Tiere doch Zeichen einer geheimen All-Verbundenheit der Wesen. Sie werden zu Lebenskomplizen, Echos der Seele.
Die Anthologie versammelt Gedichte und Prosatexte aus Rilkes Werken, ergänzt durch ausgesuchte Tierbilder und abgerundet mit einem kundigen Nachwort der Herausgeber.
Besprechung vom 29.11.2025
Stets ist das Tier ein Spiegeltier
Panther, Elefant und Co.: Drei Bände widmen sich Rainer Maria Rilke, besonders dem animalischen Aspekt seiner Dichtungen.
Von Jürgen Kaube
Ende Mai 1912 wurde die Insel- Bücherei im Verlag Anton Kippenbergs mit einem Erzählungsband Rainer Maria Rilkes eröffnet. In "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" hatte sich der Dichter, der bis dahin zwölf Gedichtbände vorgelegt hatte - nur drei sollten noch folgen -, schon 1899 einen adligen Vorfahren ausgedacht. Die Ausgabe bei Insel machte, eingeschlagen in ein ornamentiertes Buntpapier von Giuseppe Rizzi, die bittersüße Geschichte vom jungen fahnentragenden Soldaten, der 1663 im Krieg gegen die Türken gefallen war, als er nach einer Nacht mit der Geliebten die Fahne vor dem Feind zu retten suchte, über Nacht berühmt. Zwei Jahre später fielen nicht wenige wirkliche junge Soldaten mit Rilkes Erzählung im Tornister. Als Rilke 1926 starb, betrug die Auflage mehr als 300.000 Exemplare, dreißig Jahre später näherte sie sich einer Million.
Rilke war schon zu Lebzeiten ein Lyriker, der nicht nur eine Leser-, sondern eine Anhänger- und Gefolgschaft hatte. In manchen Kreisen galt es, sich zwischen ihm und Stefan George zu entscheiden. Bewunderung beider war zumeist ausgeschlossen. Anders als George hatte Rilke keine Jünger, sondern vor allem Verehrerinnen. Anders als George hatte er einerseits völlig rätselhafte Gedichte geschrieben, die Duineser Elegien etwa, und andererseits Lyrik, die es ganz leicht in die Schulbücher schaffte. Lange Zeit kam kaum ein Schüler an deutschen Gymnasien an seinem "Panther" oder dem "Archaischen Torso Apollos" vorbei. Mit Versen darüber, dass, "wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr", dem Refrain "Und dann und wann ein weißer Elefant" oder der Bitte "O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod" ging Rilke in den ewigen Vorrat schöner Stellen deutscher Poesie ein.
Heute liegt er nicht selten an der Kasse. In der Insel-Bücherei gibt es derzeit Bände mit Rilkes Bildbetrachtungen, seinen Beschreibungen der "Wandteppiche der Dame mit dem Einhorn" im Musée de Cluny, seinen Briefen über Gott, Walliser Vierzeilern, Gedichten an die Nacht, Gedichten aus Worpswede, Briefen an einen jungen Dichter und Weihnachtsbriefen an die Mutter. Es gibt die schönsten Liebesgeschichten und die schönsten Liebesgedichte, alles von Rilke über Glück und alles von Rilke über den Frühling. Die anderen Jahreszeiten werden bestimmt bald folgen, so wie alles über den Tanz, die Engel und Paris. Aus Rilkes Werk lassen sich, das ist bewiesen, endlose Motivauszüge herstellen.
Wenn in dieser Reihe von Angelika Overath und Manfred Koch nun ein schön bebilderter Band "Rilkes Tiere" vorgelegt wird, ist das aber nicht einfach eine weitere Stoffsammlung. Denn die Gedichte und Prosastücke zu Tieren stehen im Zentrum seiner poetischen Anstrengung. Sie strebt nach präziser, impressionistischer Wiedergabe und ergänzt sie durch imaginierte Eindrücke, etwa wenn Rilke die Auslage eines neapolitanischen Fischhändlers beschreibt: "Alle diese flachen, seitlich hingelegten, wie mit Uhrgläsern überdeckten Augen, an die die im Wasser schwimmenden Bilder herangetrieben sind, solange sie schauten." Oder wenn er von Flamingos sagt, sie stünden "auf rosa Stielen leicht gedreht, / beisammen, blühend, wie in einem Beet, / verführen sie verführender als eine Phryne / sich selber; bis sie ihres Auges Bleiche / hinhalsend bergen in der eigenen Weiche, / in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt." Rilke findet solche Beschreibungsaufgaben in Hunden, Fliegen, Meisen und Papageien, Löwen und Delphinen. Stets ist das Tier, wie die Herausgeber schreiben, ein "Spiegeltier", das dem Dichter Nähe ohne Besitzansprüche erlaubte und damit seinem erotischen Wunsch entsprach, der nicht ohne voyeuristische Züge war. Zugleich waren seiner Augenlust Tiere lebendige Wesen ohne Todesbewusstsein, weswegen manche von ihnen "ruhig durch uns durch" schauen: "Doch auf einmal kehrt sie, wie geweckt, / ihr Gesicht und mitten in das deine: / und da triffst du deinen Blick im geelen / Amber ihrer runden Augensteine / unerwartet wieder: eingeschlossen / wie ein ausgestorbenes Insekt", heißt es über eine Katze.
Das berühmteste Gedicht Rilkes über ein Tier ist das über den Panther im Pariser Jardin des Plantes. Hans-Peter Kunisch rückt es in seinem Buch über Rilke und seinen Briefwechsel mit einer italienischen Prinzessin in einen überraschenden Zusammenhang. Am 5. Januar 1926 schreibt Rilke an die Comtesse Lella Gallarati-Scotti über "eine schöne, an den Gouverneur von Rom gerichtete Rede von Herrn Mussolini!" In Italien beginnt sich das erste faschistische Regime zu etablieren. Rilke findet in seinem letzten Lebensjahr Geschmack daran. Das gewalttätige Durchregieren einer autoritären Macht sei doch besser als das Gerede von Humanität, Fortschritt und Vernunft. Rilke will kein Settembrini sein. Die Herzogin aber versetzt, Mussolini bewundere sie nicht, sie verabscheue Gewalt und noch mehr, wenn sie zugunsten ihrer sozialen Klasse eingesetzt werde. Sie besteht auf Freiheit.
Das Buch, das Kunisch dieser bislang fast unbekannten Auseinandersetzung widmet, ist die interessanteste Publikation im Jubiläumsjahr Rilkes. Denn der Autor erstaunt sich zu Recht: Der Dichter der zarten Seelen- und Existenzerkundung, der absichtslosen Poesie im Zeichen Paul Cézannes, der überdies 1918 in München noch Sympathien für die Literaten-Revolution bekundete, tritt 1926 als Befürworter einer faschistischen Diktatur auf? Der Übersetzer aus dem Französischen und Portugiesischen, dem Englischen und dem Italienischen, kann am harten politischen Nationalismus etwas finden? Ja, er konnte es, weil er in der Überzeugung lebte, nur in einem schroffen Nationalismus lerne sich eine Nation selbst kennen. Kunisch geht dieser Gedankenfolge in allen ihren Verästelungen nach, streift den faschistischen Lyriker Giuseppe Ungaretti und die diktatorischen Phantasien von Paul Valéry, mit dem Rilke in engem Austausch stand. Subtile Lyrik stand offenbar in keinem Gegensatz zu autoritären Wünschen. Mussolini erreichte die Avantgarde.
Und dann und wann ein Panther. Rilke fand im Tier, so Kunisch, eine Existenzform vor der zivilisierten Welt. Er bewunderte in den Tieren eine Kraft, die sich, eingesperrt im Zoo, der Zivilisation zwar beugen muss, aber selbst dort, im Käfig, noch einen letzten Widerstand gegen sie leistet. Aus einem Gedicht, das in "Rilkes Tiere" fehlt: "Oh wie sind die Tiere so viel treuer, / die in Gittern auf und niedergehn, / ohne Eintracht mit dem Treiben neuer / fremder Dinge, die sie nicht verstehen; (. . .) und mit ihrem großen Blut allein." Von da war es kein weiter Weg, die autoritäre Kraftausübung als unschuldige, weil elementare Grausamkeit menschlicher Natur zu bewundern. Mussolinis Motto "Besser einen Tag als Löwe leben denn hundert als Schaf" hätte er sich aneignen können. Im elften der "Sonette an Orpheus" hatte Rilke schon 1923 in Versen über die Taubenjagd geschrieben und den Vers gesperrt setzen lassen "Töten ist eine Gestalt unseres wandelnden Trauerns". Derselbe Gedichtband huldigt dem Schafott als Mittel einer ästhetisch gerechtfertigten Intensivierung des Lebens. In seinem "Brief des jungen Arbeiters" fordert Rilke 1922 zur "Verherrlichung der richtigen Macht" auf.
Kunisch erläutert die Gegenposition der italienischen Adligen, die sich in liberal-konservativen Kreisen bewegte und mitbekam, wen die richtige Macht und ihr "Architekt des italienischen Willens" damals alles totprügeln ließ. Rilke gegenüber bewahrt sie auf noble Weise die Freundschaft, ist aber unnachgiebig in der Einschätzung des Faschismus, dessen missbräuchliche Verführungskunst Thomas Mann später in seiner Novelle "Mario und der Zauberer" festhält, aufgrund von Erfahrungen, die er im selben Jahr 1926 in Italien gemacht hatte. Rilke war für sie empfänglich, weil er seit jeher eine Neigung zu Urtümeleien hatte, einer Faszination durch Raubtiere und den Tod fürs Vaterland erlag.
Die Rilke-Biographik hat sich mit den "Lettres Milanaises", von denen aus hier ein vorzügliches Bild der intellektuellen und politischen Lage um 1926 gezeichnet wird, bislang kaum beschäftigt. Noch heute gibt es von ihnen keine deutsche Ausgabe. Der Band "Rilke als Faschist" fehlt in der Insel-Bücherei. Wie Kunisch mit großem Verständnis zeigt, gehört dieser Verrat des Intellektuellen aber zur Physiognomie des einsamen Dichters, der ein Salonlöwe war, Avantgardist und Archaiker, der unglaublichen Kitsch hervorbringen konnte und Verse, die man nie vergessen wird, der mal soldatenhaft, mal mädchengleich auftrat. Er sei kein "Pantoffelheld des Unsagbaren".
Und er war auch kein "Santa Claus der Einsamkeit", wie ihn der englische Dichter W. H. Auden einmal nannte. Clemens J. Setz beginnt seine schwungvollen einhundert Seiten über Rilke mit dieser Sentenz, die vollkommen falsch sei und doch so vieles treffe: die stilisierte Existenz, das heilig Scheinheilige, die auf Dauer gestellte Außeralltäglichkeit. Setz hört Rilkes Versen zu, hört das alte Pragerdeutsch aus ihren Akzentsetzungen ("Die Stadt verschwimmt wie hinter Glas /. . . / Turmkuppel von Sankt Nikolas"), weist auf wunderbare Wortschöpfungen ("innen voll Stille und Bienensaug") und absichtsvolle Grammatikfehler hin ("Man fühlt den Wind von einem großen Blatt, / das Gott und du und ich beschrieben hat"). Unablässig erstaunt er sich über den Dichter, der kindliches Erleben wie kein anderer nachvollzogen hat und sich für die eigene Tochter nicht interessierte, der voller Angst war und voller Jubel, voller Pathos und zu präzisesten Mikromalereien geneigt, etwa von Rosenblättern oder dem Geschrei des aufgewühlten Meeres. Hier denkt ein Dichter über einen anderen nach, getroffen von dessen Fähigkeiten und berückt durch Hunderte von Beobachtungen. Um es mit Setz selbst zu sagen: genial.
Hans-Peter Kunisch: "Das Flimmern der Raubtierfelle".
Rilke und der Faschismus.
Reclam Verlag, Ditzingen 2025.
336 S., geb., 26,- Euro.
Angelika Overath und Manfred Koch (Hrsg.): "Rilkes Tiere". Gedichte und Prosatexte.
Insel Verlag, Berlin 2025.
111 S., geb., Abb., 16,- Euro.
Clemens J. Setz: "Rainer Maria Rilke".
100 Seiten.
Reclam Verlag, Ditzingen 2025.
100 S., Abb., br.
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