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Besprechung vom 12.04.2025
Alle Beteiligten hören
Ralf Jox und Rouven Porz führen klinische Ethik in Fallgeschichten vor
Wir alle können betroffen sein. Als Patienten oder Angehörige. Plötzlich geht es um Leben und Tod. Ein Anruf aus der Klinik, ein Angehöriger auf der Intensivstation. Die Ärzte möchten eine Entscheidung, wie weit man mit der Therapie gehen soll. Zur Vorbereitung auf solche Situationen gibt es kein Curriculum.
Ralf Jox und Rouven Porz führen die Berufsbezeichnung "Medizinethiker". Sie möchten mit ihrer Monographie die Leser vorbereiten: auf die Herausforderung, gesundheitliche Entscheidungen für sich oder Angehörige treffen zu müssen, "wenn es ernst wird". Flott geschrieben, entfalten die Autoren ein Panorama schwieriger Entscheidungen im medizinischen Alltag. Sie wollen keinesfalls nur belehren, sie möchten auch unterhalten. Entlang des Lebenslaufs, von der vorgeburtlichen Diagnostik bis zu den Grenzen der Medizin am Lebensende, präsentieren sie Fallgeschichten. Mutmaßlich soll sich der Reiz für die Leser der nämlichen Attraktion verdanken, auf die auch Arztserien im Fernsehen und in Streamingdiensten setzen.
Dabei illustrieren die Autoren das, was sie "klinische Ethik" nennen. Die Frage ihrer Kinder, was denn ein klinischer Ethiker mache, sei denn auch letzter Anstoß gewesen, die schon länger gehegte Idee zum Buch zu verwirklichen.
Wollte man den Titel des Buches als Hinweis lesen, hier werde philosophische Ethik am Beispiel medizinischer Praxis exemplifiziert, sieht man sich getäuscht. Klinische Ethiker, so das Selbstverständnis, halten sich mit ethischen Argumenten zurück. Sie moderieren nur. "Wir sind keine Schiedsrichter", betonen die Autoren. "Man kann uns einwechseln wie den Joker von der Bank, wenn man nicht weiterweiß." Klinische Ethik, so ihr Credo, steht für den transparenten Prozess der Entscheidungsfindung in schwierigen Fällen.
Wer also Argumente sucht mit Blick auf ethische Herausforderungen im Medizinbetrieb (Sterbehilfe, Suizidassistenz, vorgeburtliches genetisches Screening), wird sie nicht finden. Klinische Ethiker beanspruchen keine moralische Autorität. In einer Fülle lehrreicher Fallgeschichten wird exemplifiziert, wie die "Joker" dabei helfen, dass alle Beteiligten gehört werden, alle Perspektiven berücksichtigt werden, niemand übergangen wird. Ihre Rolle ist die von Kommunikationscoaches. Zumal es - nach Erfahrung der Autoren - in der auf den medizinischen Alltag angewandten klinischen Ethik selten um echte moralische Dilemmata geht. Sie sieht sich vielmehr meist mit tragischen Verläufen und Herausforderungen konfrontiert.
Sie sind der Stoff für die Fallberichte. Die Lektüre setzt keine eingehenden Kenntnisse der Medizin voraus, wie auch die Autoren an ihre Leserschaft keine höheren Ansprüche stellen. So sehen sie sich genötigt, bei der Erörterung von manchmal notwendigen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie zu erläutern, dass in demokratischen Ländern das Gewaltmonopol allein der staatlichen Gewalt zukommt.
Die klinische Ethik zeigt sich im Stand moralischer Zurückhaltung. Und doch vermag sie hilfreich zu sein. Die Zusammenführung der Akteure, Patienten, Angehörigen, Behandlungsteams an einem runden Tisch, die Aussprache über Ängste, Wünsche, Behandlungsoptionen erweisen sich nicht selten als ein kathartischer Prozess, der viele Beteiligte mit dem Ausgang, und sei er tödlich, besser leben lässt. In dieser Hinsicht vermag "klinische Ethik" segensreich zu wirken.
Klinische Ethiker seien gefordert als Personen, die sich durch die Tugenden "Empathie, Mut, Offenheit und Fairness" auszeichnen. Unerlässlich ist die Urteilskraft. Die wird auch mit ihrem philosophischen Namen, der Phronesis, aufgerufen. Im Kapitel, das sich mit der Zukunft digitaler Medizin auseinandersetzt, geht es um den Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Medizin. Dort liegen viele Anwendungen auf der Hand, warum also nicht auch in der Medizinethik. KI könnte wie auch in der Psychiatrie in die klinische Ethikberatung Eingang finden, etwas als Instrument der Ermittlung des Patientenwillens. Erste Versuche mit einem Patient Preference Predictor lassen aufhorchen. Doch in welchem Verhältnis stehen solche Entwicklungen zu ihrem eigenen Berufsbild? Da halten es die Autoren mit der Tradition, sie setzen auf profundes Urteilsvermögen. Ob KI diese wird substituieren können, lassen sie nur als rhetorische Frage offen. STEPHAN SAHM
Ralf Jox / Rouven Porz: "Wenn es ernst wird". Lebensentscheidungen von Kinderwunsch bis Sterbehilfe. Wie wir die richtigen Fragen an die Medizin stellen.
C.H. Beck Verlag, München 2025. 238 S., geb.
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