Besprechung vom 23.12.2019
Ein Bild vom Himmel
Denn wenn ein Stern besonders leuchtet, sollst du ihm folgen: Linda Wolfsgrubers und Reinhard Ehgartners festlich funkelnde Weihnachtsgeschichte ist nicht von dieser Welt.
Solch einen "Sternenboten", wie das Kinderbuch der Graphikerin Linda Wolfsgruber und des Germanisten Reinhard Ehgartner heißt, hat man noch nie gesehen, geschweige denn durchblättert. Auf dreißig nachtschwarzen Seiten rieseln die Gestirne nur so herab, während sich auf der rechten Seite jeweils eine mal engere, mal freiere Variation der weltberühmten Himmelsscheibe von Nebra mit ihren goldenen Sternintarsien aus der Bronzezeit findet, die im Landesmuseum Halle aufbewahrt wird.
Aber ist es überhaupt ein Kinderbuch? Für wen der "Kleine Prinz" ein solches ist, für den ist auch der "Sternenbote" unbedingt eines - ein Buch für reife Jugendliche und eines für kindgebliebene Erwachsene gleichermaßen.
Denn einen spannungsreichen Kontrast bilden die lakonisch wirkenden Texte einerseits (Eingangssatz: "Die Venus findet jeder. Bei anderen Sternen muss man länger suchen. Wenn man nicht geübt ist.") und die elegischen Weltraumbilder gegenüber - es dürfte nicht anders sein. Würden die Worte ebenfalls abspacen und zu den Sternen aufbrechen, würde man das Buch vermutlich schnell überfordert zur Seite legen.
So aber schießt der kindlich-altkluge Kosmosreisende unentwegt Weisheiten in den Orbit, die durch ihre Unvermitteltheit und Ungewöhnlichkeit überraschen (ebenfalls noch gleich auf Seite eins: "Auf Sterne kann man sich verlassen. Immer pünktlich" - als warte da ein Sternenkind am Rande der Galaxie auf seine Mitfahrgelegenheit durch einen interstellaren Schulbus). Sie gehen lose Verbindungen mit den Illuminationen auf der Konterseite ein, die nie nur beschreiben, was dort zu sehen ist, sondern jeweils neue Dimensionen aufreißen.
Wenn etwa Jupiter als "in Geschenkpapier gewickelt" geschildert wird, erscheint dieser Vergleich treffend. Überhaupt das mannigfache Schillern von Metall - der Zeichnerin Wolfsgruber gelingt das Kunststück, die Bronzelegierung der Nebrascheibe über die Seiten hinweg in allen denkbaren Grünblautönen immer wieder neu changieren zu lassen. Zusätzlich schattiert sie den Rand der jeweiligen Scheibenbilder, so dass sich der Eindruck eines Teleskopblicks einstellt, möglicherweise eine feine Anspielung auf den Urgroßvater dieses Buches, den legendären "Sternenboten" ("Sidereus nuncius") Galileo Galileis aus dem siebzehnten Jahrhundert, in dem dieser neu entdeckte Monde den Medici gewidmet und sie nach dem mächtigen Florentiner Geschlecht benannt hatte.
Die Scheibenbilder kulminieren schließlich in dem menschheitsalten Bildmotiv einer "Maria auf der Mondsichel", das im Text als vom Kind gesehenes Bild in einer Kirche, gewissermaßen als farbig bemalte Butzenscheibe vorgestellt wird.
Hier wird die Rundform ausgereizt, in die diese Sternenmutter sich perfekt einschmiegt. Seit der Frührenaissance ist der sogenannte Tondo diejenige Rundform von Bild, in das die Künstler ihre Figuren mit raffinierten Rundungen und einem deutlichen Mehr an Bogenformen als in einem rechteckigen Gemälde einpassen.
Die Graphikerin Linda Wolfsgruber, die in der Südtiroler Kunstschule St. Ulrich wie auch in der "Scuola del Libro" der Raffael-Stadt Urbino ihre Ausbildung erhalten hat, kennt die beliebten Tondi zum Beispiel eben von Raffael natürlich auswendig. Neben dem künstlerisch reizvollen Spiel mit den Rundformen hat der Tondo immer auch einen inhaltlichen Mehrwert: Die Kreisform kann stellvertretend für die Sonne stehen, die sichelförmigen Bögen vermögen den Mond zu verkörpern. Wenig verwunderlich daher, dass Tondi fast immer für Mariendarstellungen genutzt wurden - der Offenbarung des Johannes zufolge ist die Muttergottes die "Apokalyptische Frau", die, bekleidet mit der Sonne, auf dem Mond stehend und mit zwölf Sternen bekrönt, den kleinen Gottessohn vor der Verfolgung durch den Drachen schützt. Sonne und Mond in ein und derselben Person zu verkörpern, das hatten nicht einmal die götteramalgamierfreudigen Römer in der Antike geschafft, bei denen der Gott Sol und Frau Luna-Diana noch klar als zwei widerstreitende Prinzipien getrennt waren. Überraschenderweise werden derartige körperliche Zu- und Einschreibungen auch bei frühzeitlichen Himmelsdarstellungen wie der Scheibe von Nebra vermutet, was nicht unwahrscheinlich klingt, hatten doch solche astronomischen Bestimmungsbilder immer auch den Nebensinn einer Vorhersage der Aussaat und standen damit in direkter Verbindung mit Fragen des Ertrags von Ernten und den Zyklen von Fruchtbarkeit, Fragen, die mit weiblichen Personifikationen assoziiert waren. Dieses Spezialwissen könnte vielleicht vom Germanisten und studierten Theologen Reinhard Ehgartner vermittelt sein.
Die große Frage bei diesen mehr als einem Dutzend Himmelsscheiben bleibt: Ist das nun anachronistischer Astro-Kitsch oder eine geniale Synthese einer zeitlos gültigen Mutter-Kind-Formel? Zweites, weil es durchweg neue Bilder und nie abgeschmackte Worte findet.
Zwar fallen einem als stilistischer Vergleich Chagall, aber auch Picasso mit seinen zahlreichen "Mutter mit Kind"-Gruppen ein. Besonders innig und häufig hatte ja Picasso das Motiv der ihr Kind aktiv beschützenden Mutter in seiner Blauen Periode gemalt, mit ausgemergelten und viel zu jungen Müttern und blässlichen Kindern, die dürr wie bleiche Mondsicheln in deren Armbeuge liegen. Ebenso schutzbedürftig wie schutzspendend wirkt auch Wolfsgrubers Sternenmutter mit Kind.
Diese Motivwanderungen über Äonen in frische, packende Bilder gegossen zu haben, die aber zugleich etwas Beruhigendes besitzen, ist kein geringes Verdienst. Statt dem vermutlich vergeblichen Warten auf Schnee und eine weiße Weihnacht spendet dieser astrein-astral illuminierte Sternenbote Kindern wie Eltern so eine besondere Epiphanie.
STEFAN TRINKS
Linda Wolfsgruber,
Reinhard Ehgartner: "Sternenbote". Eine Weihnachtsgeschichte.
Tyrolia Verlag, Innsbruck 2019. 32 S., geb., 16,95 [Euro]. Ab 6 J.
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