Besprechung vom 11.12.2024
An den Wänden sollen die Geister tanzen
Der Künstler als bürgerlicher Rebell: Res Strehle legt eine vorzügliche Biographie des Sprayers Harald Naegeli vor.
Ende der Siebzigerjahre tauchten in Zürich, bevorzugt an den Fassaden und Betonwänden der Nobelgegend Zürichberg, Sprayzeichnungen mit einer unverwechselbaren Handschrift auf. Und sie vermehrten sich rasant. Es waren seltsame, in sicheren, eleganten Linien gezogene menschenähnliche Wesen. Anstelle eines Kopfes trugen sie häufig ein einziges Auge in einem himmelwärts gerichteten Dreieck. Die männlichen Figuren waren spindeldürr, die weiblichen hatten mächtige Brüste. Wer steckte dahinter? Das fragten sich nicht nur die Passanten, denen die Figuren gefielen. Die Frage stellten sich vor allem auch die Hauseigentümer, die über die anonymen "Geschenke" wenig erfreut waren. Es dauerte fast zwei Jahre, bis das Rätselraten ein Ende hatte. Am 12. Juni 1979 war der Sprayer bei einer seiner nächtlichen Aktionen überrascht und kurz darauf dem Richter zugeführt worden.
Der Rest der Geschichte ist bekannt: Harald Naegeli wurde vom Zürcher Obergericht zu einer Schadenersatzzahlung von 101.524 Franken und 60 Rappen verurteilt, und, nachdem er rückfällig geworden war, zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von neun Monaten. Es folgten Naegelis Flucht ins Ausland, die Verhaftung aufgrund eines internationalen Haftbefehls, eine sechsmonatige Gefängnisstrafe und schließlich das Exil. Dieses verbrachte Naegeli hauptsächlich in Düsseldorf, von wo er erst jüngst in seine Heimatstadt zurückkehrte.
Dem Sprayer hat nun Res Strehle, ein exzellent vernetzter Zürcher Journalist, eine gründlich recherchierte, gut lesbare Biographie gewidmet. Sie ist mit einem Bildteil versehen, der mit den frühen Collagen und kalligraphischen Wolkenzeichnungen auch die weniger bekannte Seite von Naegelis Schaffen würdigt. Die einleitenden Kapitel beschreiben das familiäre Umfeld, in dem der älteste von vier Söhnen aufwächst. Strehle zufolge ist dieses von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Naegelis Persönlichkeit und der Mission, die hinter seiner rebellischen Aktivität steht.
Haralds Vater, Hans Naegeli, der älteste Sohn einer Ärztefamilie, war ein Anhänger der Parapsychologie. Er glaubte, dass seine Patienten von bösen Geistern heimgesucht wurden und versuchte, sie von ihnen zu befreien. Haralds Mutter, Ragnhild Osjord, war Malerin. Hans Naegeli hatte die Norwegerin in Hamburg kennengelernt. In Zürich wurde sie nie heimisch, und die Ehe war bald zerrüttet. Harald und seine drei Brüder mussten sich, von Vater und Mutter eher vernachlässigt, ihre eigene Welt einrichten.
Für den Ältesten, Harald, der sich in den frühen Jahren selbst als "Künstler und Psychologe" bezeichnete, war die Jugend geprägt von eifrigem Zeichnen, der Liebe zur Poesie und zur klassischen Musik, aber auch von einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber allen Schulfächern. Der Weg zum Künstler war langwierig und zunächst zaghaft. Erst im Alter von 37 Jahren brach sich Naegelis Kreativität Bahn, als er, begleitet von seinem Hund mit Namen Suckelborst, zu seinen nächtlichen Spraytouren aufbrach. Er sprühte die Geister, die sein Vater vertreiben wollte, mit Eifer an die Hauswände.
Der biographische Überblick zeigt, wie unterschiedlich die deutschen und die schweizerischen Behörden auf Naegelis Schaffen abseits von Kunstmarkt und Kommerz reagierten. In Deutschland wurde es von Intellektuellen und Künstlern, allen voran von Joseph Beuys, im Kontext von Post-1968 gefeiert. Ein Rechtsprofessor argumentierte, der Schutz des Eigentums dürfe nicht höher gewichtet werden als eine dringliche persönliche Botschaft. So traf Naegeli auf eine eher milde Justiz. Und seine Botschaft war, wie der Rückblick zeigt, durchaus dringlich, etwa als er 1984 nach dem Chemieunfall von Schweizerhalle bei Basel und dem darauffolgenden Fischsterben einen Totentanz der Fische an die Rheinbrücken zwischen Basel und Düsseldorf sprayte. Auch in Venedig, Frankfurt, Köln und Wismar hat der Sprayer wichtige Werkgruppen realisiert.
Harald Naegeli aber ist vor allem ein Produkt der Zwingli- und Bankenstadt Zürich, der er bis heute in Hassliebe eng verbunden ist. Nachdem Naegeli in den beiden Türmen des Großmünsters den von ihm sehnlichst gewünschten Totentanz nicht adäquat realisieren konnte, beschloss er, die Knochenmänner in die Stadt hinauszuschicken. Während der Corona-Zeit tauchten sie als überraschendes Memento mori auf zahlreichen Gebäuden der Innenstadt auf. Auffallend viele gehörten zivilen Institutionen, Krankenhäusern, Hochschulen, Museumsgebäuden und Kirchen. Sogar der Sockel des Bronzedenkmals des Zürcher Bürgermeisters und Heerführers Hans Waldmann beim Stadthaus zeigte ein mit Sense bewehrtes Skelett. Noch im gleichen Jahr wurde Naegeli der Kunstpreis der Stadt zugesprochen, und vier seiner Corona-Sprayarbeiten wurden unter Schutz gestellt.
Res Strehles Biographie ist vieles: Eine "Buddenbrooks"-Geschichte vom Zürichberg, eine vergleichende Gesellschaftsanalyse Schweiz-Deutschland und eine spannende Kriminalgeschichte. Mit Naegelis Lebensbeschreibung hat der Autor, der mit den gesellschaftspolitischen Anliegen des Sprayers sympathisiert, eines der beiden Elemente geliefert, mit denen bedeutende Künstler ihre letzte Weihe erfahren. Auch das zweite Element, das Werkverzeichnis, liegt mittlerweile, zumindest was die Sprayarbeiten betrifft, in einer dem Wirken des Sprayers adäquaten Form vor. Mit der Website sprayervonzuerich.com hat die Stiftung Harald Naegeli einen interaktiven und kollaborativen OEuvrekatalog ins Netz gestellt, in dem die Sprayzeichnungen, auch die mittlerweile zerstörten, dokumentiert sind. So ist einer der großen Pioniere der Streetart dank Biographie und OEuvrekatalog noch zu Lebzeiten als Klassiker in den Olymp der Künste aufgestiegen, auch wenn der Untertitel der Biographie anderes suggerieren mag. FELIX THÜRLEMANN
Res Strehle: "Harald Naegeli". Nur Fliegen kann er nicht. Eine Biographie.
Diogenes Verlag, Zürich 2024.
208 S., Abb., geb.
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