»Vilnius Poker« von Ricardas Gavelis ist die große litauische Wiederentdeckung über die sowjetische Okkupation und was sie im Inneren der Menschen angerichtet hat
Vytautas Vargalys wurde vor der sowjetischen Besatzung Litauens geboren, avancierte zum Freiheitskämpfer, wurde daraufhin gefoltert und in ein Arbeitslager in Sibirien deportiert. Er überlebt, wird aber fortan von rätselhaften Visionen und Erinnerungen heimgesucht und auch von paranoidem Verfolgungswahn. Denn Vytautas, der seit seiner Rückkehr als Bibliothekar arbeitet, ist überzeugt: Die bröckelnde sowjetische Macht lauert hinter jeder Straßenecke, und jede Vorstellung von Wirklichkeit trägt eine Alternative schon in sich. Seine Affäre mit der Bibliothekskollegin Lolita wird jäh durch einen Mord beendet - und mündet in eine Anklage gegen Vytautas. Im Prozess beschreibt jeder der aufgerufenen Zeugen eine ganz eigene Wahrheit. Wem kann man glauben? Ist es am Ende die eigene Wahrnehmung, die einen täuscht? Das monumentale »Vilnius Poker« ist der wichtigste litauische Roman des 20. Jahrhunderts und ein schillerndes Kaleidoskop, das mit jeder Bewegung ein neues Bild ergibt.
Besprechung vom 04.03.2025
Gott kann nur ein globaler Komiker sein
Moderner Klassiker aus Litauen: Der kühne Roman "Vilnius Poker" von Ricardas Gavelis erscheint erstmals auf Deutsch.
Es ist ein Zeichen für die beschränkte Sicht des Westens auf den europäischen Osten, dass ein Hauptwerk der litauischen Moderne, der Roman "Vilnius Poker" des 2002 gestorbenen Schriftstellers Ricardas Gavelis, erst mit mehr als 35 Jahren Verspätung auf Deutsch erscheint. Mildernde Umstände: Das Buch kam in Vilnius 1989 heraus, gerade noch am Ende der Sowjetzeit, die in Litauen längst in Tauwetter übergegangen war, und seine Gesamtperspektive auf die litauische Geschichte des 20. Jahrhunderts ließ es nach dem Mauerfall und dem Bröckeln des sowjetischen Imperiums zunächst wohl altmodisch erscheinen. Ein Werk aus den dunkelsten Tagen der Résistance, wo die Résistance ja gerade - so die Hoffnung - ins Licht geführt hatte. Am 11. März 1990 erlangte Litauen die Unabhängigkeit, neue Parteien wurden gegründet und frische Bündnisse geschmiedet, die Welt schien eine andere zu werden. Da mag die Lust auf rückwärtsgewandte Geschichten begrenzt gewesen sein.
Und dennoch: Suchen wir nicht auch sonst nach den kapitalen Werken, die ihre Zeit und das in ihr herrschende Bewusstsein ausdrücken? Wie viel Sekundäres aus populären Literatursprachen wird übersetzt, während Bedeutenderes liegen bleibt? Um es gleich zu sagen: "Vilnius Poker" ist kein makelloses Buch, und mit fast 700 Seiten stellt es eine fordernde Lektüre dar. Aber der Roman hat den Eigensinn und die Grandiosität der Solitäre, und in seiner Radikalität, seinen grellen Phantasien von Ohnmacht und Gewalt und seinen geschichtsphilosophischen Ausflügen erfasst er wie in einem Brennspiegel die Bewusstseinslage der Sowjetsatellitenstaaten in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, mit der ganzen Erfahrungsbreite zwischen Anpassung und Auflehnung, Konformismus und Frustration. Es gibt eben, dabei bleibt es, den "homo sovieticus" und den "homo lithuanicus".
Vier Schicksale werden erzählt, das erste sehr lang - mehr als 400 Seiten stark -, die anderen drei folgen der ersten als Komplementärerzählungen, wobei die vier Versionen einander teils widersprechen und die Suche nach objektiver Wahrheit hinfällig machen. Die Haupthandlung, um sie einmal so zu nennen, gehört Vytautas Vargalys, einem Mann um die Fünfzig, der als Abteilungsleiter einer großen Bibliothek für die Digitalisierung der Bestände sorgen soll. Vargalys war mehr als zehn Jahre im sibirischen Lager, erinnert sich an seine Folterer und sieht sie auch im späteren Leben wieder, buchstäblich an der Straßenecke.
Vor die Schilderungen des Freiheitskämpfers schiebt sich immer wieder die Paranoia, "ihnen" ausgeliefert zu sein, nicht nur dem metaphysische Dimensionen annehmenden Überwachungsstaat, sondern einem übergeschichtlichen Weltprinzip und Mastermind, der allwissenden Instanz, die selten greifbar, aber durch ihre versklavende Aura umso mächtiger erscheint: "Leider sind SIE überall, in allen Ländern, in allen Gesellschaftsordnungen. Es gab und gibt SIE zu allen Zeiten - bisweilen haben SIE regiert, häufiger im Verborgenen gewirkt, aber immer auf IHRE Chance gelauert . . . Aus den Ruinen der Zivilisationen starren immer IHRE pupillenlosen Augen. Nein, SIE herrschen weder über die Kräfte der Natur noch über Königreiche, aber SIE sind dazu imstande, das Wichtigste zu zerstören - die menschliche Seele."
Um diese Seele geht es dem Autor, dem Dreck und der Aussichtslosigkeit zum Trotz. Sein Held ist stolz, ruhelos, hungrig nach Sex (und fixiert auf Form, Textur und Neigungswinkel weiblicher Brüste, nun ja) und fühlt sich oft wie "ein Tourist in seinem eigenen Leben". Vor allem aber kann Vargalys nicht aufhören, über seine Heimatstadt Vilnius nachzudenken, jene Welt, die er liebt und hasst und die von der sowjetischen Herrschaft entstellt wurde. Vilnius als Schmelztiegel der Nationen, als Sprachgemisch und Erbe einer fast verschütteten jüdischen Vorgeschichte, als architektonischer Bastard, dessen frühere Schönheit kaum noch zu erkennen ist - all das ist die Hauptstadt für Vargalys, der durch die Straßen zieht und den Gespenstern der Vergangenheit begegnet. Die eigene Familie - Vater begnadeter Wissenschaftler, Mutter Selbstmörderin - eingeschlossen. Am Ende ist der Angelpunkt des Plots gar nicht das Entscheidende, doch er gehört zur Anordnung: Jemand hat Vargalys junge Freundin Lolita bestialisch ermordet, und wie in Kurosawas Film "Rashomon" liefert der Roman konkurrierende Versionen des Hergangs, die nicht alle zugleich wahr sein können. Aber was heißt in dieser Welt schon Wahrheit? Und was wäre gewonnen, wenn man sie kennte?
Es ist ein keinesfalls belangloser Umstand, dass die Übersetzerin Claudia Sinnig nach der Erlangung der Unabhängigkeit Litauens 1990 im Informationsbüro des Ministerpräsidenten als Parlamentsbeobachterin mitgearbeitet hat, um ausländischen Diplomaten und Journalisten die neuen Zeiten zu erklären. Auch für sie, die mit ihrer Übertragung ins Deutsche ein beeindruckendes Sprachkunstwerk geschaffen hat, bedeutete der Roman "Vilnius Poker" eine Reise in die Vergangenheit.
Gavelis, geboren 1950, ist ein Kind des Kalten Krieges, also des Stillstands und der Bedrohung. Aus dieser Grundstimmung rührt sein Blick auf die Figuren, auf ihre Verrohung ebenso wie auf das Komische und Verzweifelte ihrer Kämpfe. Er sieht die kleinen Ausflüchte und großen Rechtfertigungserzählungen in diesem Pokerspiel, das jeden vor eine eigene Aufgabe stellt. Mit fortschreitender Lektüre erkennt man die trotzige Energie, mit der die Dissidenten an den Stäben des Käfigs rütteln, während die reale Macht den Einzelnen immer wieder in sein stumpfes Funktionieren zurückdrückt, von knallhartem körperlichen Leid zu schweigen.
Einmal sagt ein Bibliothekskollege zu Vargalys: "Gott ist ein globaler Komiker." Die Welt sei eine schwarze Komödie mit dem einzigen Ziel, "Gott zum Lachen zu bringen". Worauf Vargalys der Gedanke kommt, wie wenig Komödienhaftes die Kinder in den sibirischen Lagern hatten: "Vielleicht ist dein Gott ja doch ein Verbrecher, wenn ihn Qualen und Blut amüsieren?" Keine wahre Geschichte aus diesem Reich kann glücklich enden; auch diese tut es nicht. Aber die Bilder, die Ricardas Gavelis für den Kampf gegen Verlust und Entmündigung findet, sie bleiben. PAUL INGENDAAY
Ricardas Gavelis:
"Vilnius Poker". Roman.
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 688 S., geb.
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