Besprechung vom 12.10.2024
Empirismus, aber richtig!
Die Stützen des "Wiener Kreises": Eine Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Rudolf Carnap und Otto Neurath.
Von Helmut Mayer
Von Helmut Mayer
Wir erleben, wie der Geist wissenschaftlicher Weltauffassung in steigendem Maße die Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterrichts, der Erziehung, der Baukunst durchdringt, die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten hilft. Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf." So steht es, der letzte Satz gesperrt gedruckt, am Ende des Manifests "Der Wiener Kreis". Im Jahr 1929 erschienen, geht es auf zwei prominente Mitglieder auf dem linken Flügel des "logisch-empiristischen" Kreises zurück, Otto Neurath und Rudolf Carnap. Wobei der in werbender Rhetorik geübte Neurath den Ton solcher Anbindungen an das Leben bestimmte, das vom "metaphysischen und theologischen Schrott der Jahrtausende" zu befreien war.
Denn die metaphysischen Tiefsinnigkeiten deckten für den damals fast vierzigjährigen Ökonomen und Soziologen, der im "Roten Wien" der Zwischenkriegszeit ein vielgewandter Akteur war, bürgerliche und rechte Ideologie, die es zugunsten von Einsichten in bessere Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft zu unterbinden galt. Der etwa zehn Jahre jüngere Carnap, der sich 1926, aus Deutschland kommend, in Wien mit seiner ersten großen Arbeit, "Der logische Aufbau der Welt", habilitiert hatte, ließ sich da eher mitreißen, als selbst kämpferische Parolen auszugeben. Zwar zählte er sich nicht zu denen, die - wie das Manifest es leicht ironisch formulierte - "auf den eisigen Firnen der Logik" ein zurückgezogenes Dasein führen wollten, aber die Verve des Aufklärers und Gesellschaftstechnikers Neurath überflügelte ihn doch weit.
Womit von Anfang an ein Ungleichgewicht angelegt war im Verhältnis dieser beiden Bündnisgenossen im Zeichen von Logischem Empirismus und Einheitswissenschaft. Wie es sich entwickelte, das lässt sich zwar an den Schriften der Protagonisten halbwegs verfolgen, die beide bedeutende Wirkungsgeschichten hervorbrachten. Aber obwohl bereits in den späten Siebzigerjahren die Historisierung des "Kreises" in Gang kam, fehlte die Edition einer wichtigen Quelle erstaunlich lange, nämlich die des stattlichen Briefwechsels, der bereits 1923 mit werbenden Nachfragen Neuraths bei Carnap einsetzt, in den gemeinsamen Wiener Jahren spärlicher wird, aber mit Carnaps Weggang nach Prag (1931) und schließlich in die USA (1935) an Umfang gewinnt, bevor er 1945 abbricht, als Neurath in England stirbt, wohin er sich in letzter Sekunde aus dem 1934 gewählten holländischen Exil vor den einrückenden deutschen Truppen gerettet hatte.
Nun aber liegt endlich ein Auswahlband dieser - digital inzwischen vollständig erschlossenen - Briefe vor. Auch in ihm gibt Neurath den Ton an. Zum einen deshalb, weil zwei Drittel der Briefe von ihm stammen, aber auch weil er mit rhetorischer Verve, Witz und Formulierungslust verfährt, die der vorsichtige, korrekte Carnap kaum ins Spiel bringt. Auf dem Terrain der grundsätzlichen Fragen - Was bestimmt im Grunde den Empirismus? Wie verfährt logische Analyse von Alltagssprache und Wissenschaften? Was ist deren richtige Ausgangsbasis? Wo beginnt die von Neurath immer wieder angeprangerte fatale Metaphysik? - gibt es dabei recht schnell Auseinandersetzungen. Sie werden zwar lange erfolgreich beigelegt, denn gerade der Praktiker Neurath weiß um die Wichtigkeit, in der Öffentlichkeit und auf akademischem Terrain möglichst als programmatisch geeinte Gruppe aufzutreten. So findet man zu Formulierungen, die beide Seiten billigen (oder zumindest ertragen). Aber schwer zu überbrückende Differenzen können trotzdem in jedem Moment wieder zum Gegenstand werden, besonders deutlich in Briefen der letzten Lebensjahre Neuraths, wo man auf lange Ausführungen zu seiner Herangehensweise in Sachen "Einheitswissenschaft" und den damit verknüpften Intentionen stößt - fast möchte man sie Bekenntnisschreiben nennen.
Neurath ist von früh an angetan von Carnaps Fähigkeit, wie er es später einmal formuliert, "die logische Klarheit geordneter Dinge wundersam zu entfalten". Aber in dieser Reverenz ist auch eine Kritik angelegt an der Tendenz zu einer für Neurath fatalen Selbstgenügsamkeit logischer Genauigkeit, die dann obendrein noch mit Hierarchisierungen einhergeht, samt "netten deduktiven Ableitungen" innerhalb einer "Pyramidenkonstruktion der Wissenschaften". Der strikt pragmatisch denkende, immer an einprägsamen Slogans interessierte Neurath ist allergisch gegen allzu feste Architektonik und Einteilungen (mit Blick auf das Großprojekt der einheitswissenschaftlichen "Enzyklopädie"), sieht schnell idealistische Reste, Absolutismen, Nachsichtigkeiten gegenüber metaphysischen, also empirisch nicht gedeckten Redeweisen.
Carnap begegnet den Einwänden mit großer Geduld, die Freundschaft und das Wissen um eine gemeinsame Orientierung sind belastungsfähig, ist aber seinerseits mit fortschreitenden Jahren genervt von manchen Einwänden und Formulierungen, die in seinen Augen vorschnell und ungenau angebracht sind. Er muss etwa seine Hochschätzung Wittgensteins verteidigen (für Neurath vom "Tractatus" weg ein rotes Tuch), Tarskis Wahrheitskonzept, seinen semantischen Ansatz, sein Entgegenkommen gegenüber Popper (von Neurath mit harten Urteilen eingedeckt), überhaupt seine zu große Nachsicht gegenüber Aufweichungen eines strikten Empirismus, wie er in den Augen Neuraths für das Aufklärungsprogramm, das mit der einheitswissenschaftlichen Organisation verknüpft bleiben muss, notwendig ist. "I think you are often more systematic, than empiricism allows us to be", heißt es in einem der späten, ab 1939 auf Englisch verfassten Briefe.
Aber das "wir" wird nicht losgelassen, nicht einmal in der langen Verstimmung, mit der dieser Briefwechsel endet. Tief gekränkt durch eine öffentlich gewordene Distanzierung Carnaps von Neuraths jüngster Schrift, wurden da noch einmal die Differenzen bearbeitet, beklagte sich Neurath wieder einmal, dass seine Beiträge von Carnap nicht angemessen gewürdigt und zitiert würden. Dass daraus ein Bruch geworden wäre, ist ganz unwahrscheinlich, vermutlich hätte der erste Besuch Neuraths in Harvard nach dem Krieg gereicht, um das persönliche Verhältnis wieder einzurenken. Die aufwendige organisatorische Arbeit an der "Enzyklopädie" verlangte das ohnehin.
So aber, mit Neuraths plötzlichem Tod, begann erst einmal die beeindruckende Wirkungsgeschichte Carnaps in philosophischen Departments der USA. Bevor rund vier Jahrzehnte später, Carnap starb 1970, eine Wiederentdeckung Neuraths einsetzte, der als Bildstatistiker und Schöpfer von ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education) freilich nie in Vergessenheit geraten war. Carnap hatte noch Gelegenheit, in seiner "Intellektuellen Autobiographie" - in dem ihm gewidmeten Band der "Library of Living Philosophers" erschienen - auf seine Beziehung zu Neurath zurückzublicken. Die Edition des Briefwechsels führt sie nun im lebendigen Austausch vor.
Rudolf Carnap und Otto Neurath: "Briefwechsel".
Hrsgg. von Christian Damböck, Johannes Friedl und Ulf Höfer. Meiner Verlag, Hamburg 2024. 673 S., geb.
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