Besprechung vom 12.10.2024
Wie man ganz ohne Wasser schwimmt
"Tauchsommer" von Sara Stridsberg und Sara Lundberg lotet aus, wie weit unser Verständnis für andere reicht.
Von Tilman Spreckelsen
Von Tilman Spreckelsen
Keiner sagt ihr etwas, so fängt das schon an. Keiner, das heißt hier zunächst: Zoes Mutter, die vor ihrem Kind die Krankheit des Vaters lange Zeit verborgen hält. "Eines Tages war mein Papa einfach weg", so beginnt das Bilderbuch "Tauchsommer" von Sara Stridsberg und Sara Lundberg, und bereits hier, auf der ersten Doppelseite des Buchs, zeigt sich das exquisite Zusammenspiel der beiden Urheberinnen: "Jemand" habe den Vater "aus der Wirklichkeit herausgeschnitten", vermutet Zoe, "am Frühstückstisch, wo er sonst saß, war jetzt ein Loch", konstatiert sie; das zugehörige Bild zeigt ein Mädchen, das still, aber beharrlich auf den leeren Platz am Tisch blickt, wo wie zum grausamen Gedenken ein Teller gedeckt ist, der aber leer bleibt. Nur dass mit der Mutter eben noch eine zweite Person am defizitären Tisch sitzt und angestrengt von Zoe und dem Platz des Vaters wegblickt. Die Zeitung liest sie, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, und darauf, dass sie das Blatt vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchsieht, möchte man wetten.
Die Intensität dieses in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Buches erwächst aus solchen Stellen, bei denen man sich die Autorin Stridsberg und die Illustratorin Lundberg vorstellt, wie sie sich die Bälle zuwerfen und den Grad an Offenheit und Diskretion bestimmen, den ihr gemeinsames Buch von Seite zu Seite aufweisen soll: Wo erzählt der Text etwas aus, wo übernimmt das Bild, und geht es auch umgekehrt?
Die Rätsel jedenfalls, die für Zoe mit dem Schicksal ihres Vaters zusammenhängen, geben dem Buch eine ästhetische Richtung. Das ist ungewöhnlich genug, gerade im Vergleich mit den vielen anderen Werken für Kinder und Jugendliche, die ein ähnliches Thema wie "Tauchsommer" behandeln, die psychische Erkrankung eines Elternteils. Glatt sind die Flächen, auf denen Lundberg die Hintergründe für diese Geschichte darstellt, sodass selbst das fröhliche Siebzigerjahre-Design der Tapeten kühl und ungreifbar wirkt, und glatt sind auch die Gesichter der Menschen, mit denen Zoe es zu tun bekommt, als sie endlich erfährt, wohin ihr Vater verschwunden ist. Glatt ist schließlich Zoes eigenes Gesicht - das Mädchen wird sich im Verlauf der Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird und einige Monate samt Ausblick auf einige Jahre umfasst, immer wieder der verwirrenden und verstörenden Welt der Erwachsenen anpassen.
Allerdings gehört es zu den undurchschaubaren Wundern dieser Geschichte, dass Zoe ausgerechnet in der Einrichtung, die ihrem Vater für lange Zeit zum Heim wird, zum Schutz vor einer bedrängenden Wirklichkeit, auf eine Person trifft, die sie mit ihren Fragen nicht abwehrt, sondern sogar um sie wirbt.
Zoe hat sich über das Verbot ihrer Mutter hinweggesetzt und besucht regelmäßig die Klinik, in der ihr Vater Patient ist. Sie muss verkraften, dass ihr Vater, gefragt, ob er nicht endlich wieder nach Hause kommen möchte, darauf nur mit "ich weiß nicht" antwortet. Eigentlich will er nicht einmal besucht werden. Immerhin lässt er sich so weit auf seine Tochter ein, dass er mit ihr Schach spielt, "um die Zeit zu vertreiben", wie Zoe ohne ein Anzeichen von Bitterkeit registriert.
Die Frau im Bademantel, die dann plötzlich auftaucht und der die Illustratorin Lundberg ganz wunderbare fließende Konturen verleiht, heißt Sabina. Was sie besonders macht, ist ihr Interesse an Zoe, die das an ihren eigenen Eltern, aus je unterschiedlichen Gründen, vermissen muss. Und auch wenn Zoe bei dieser ersten Begegnung Sabinas überraschende Einladung "Wollen wir schwimmen gehen?" noch ausschlägt, weil sie in der Anstalt keine Möglichkeit zum Schwimmen erkennen kann, beginnt damit eine intensive Freundschaft zwischen der offenen, aber im Kern undurchschaubaren Frau und dem alleingelassenen Mädchen, das allmählich versteht, dass es zum gemeinsamen Schwimmen nicht unbedingt Wasser braucht.
Denn das ist die Dynamik dieses stillen, kühlen, freundlichen und letztlich rätselhaften Buchs, die trotz der überschaubaren Handlung nicht arm ist an Wendungen, die nicht nur für Zoe überraschend kommen: Erwartungen an Stabilität werden durchkreuzt, die ans Gegenteil aber auch, und für die Freundschaft mit denen, die sich durch schwere See bewegen, bedarf es einer Kraft und eines Verständnisses, das nicht jeder aufzubringen vermag.
Sara Stridsberg, Sara Lundberg: "Tauchsommer".
Aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2024. 40 S., geb., 18,- Euro. Ab 8 J.
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