"Der Aufgang" erzählt die Geschichte des Flamen Willem Verhulst, der während der Nazizeit in Gent als SS-Mitglied und Judenverfolger das Schicksal unzählig vieler Menschen entschied. Als Stefan Hertmans den Drongenhofes in Gent, einem seit langem leerstehenden und schon marodem Gebäude, kauft, weiß er nicht um dessen historische Bedeutung. Denn hier wohnte niemand geringeres als Willem Verhulst, ein belgischer Kollaborateur während des Nationalsozialismus.Es war, als spukten plötzlich Gespenster durch die mir so wohlbekannten Zimmer; nur zu gerne hätte ich ihnen einige Fragen gestellt, doch sie gingen ungehindert durch mich durch.Der Autor beginnt eine Recherche über das Leben von Willem Verhulst und rekonstruiert den Werdegang eines auf einem Auge blinden Außenseiters zu einem gefürchtetem SS-Mitglied und Judenverfolger vor und während des Zweiten Weltkrieges.Meine persönlichen LeseeindrückeWie auch der Roman "Die Fremde" beruht "Der Aufgang" auf historische Fakten und einer ausführlichen Dokumentation, ergänzt durch die Fantasie des Autors Stefan Hertmans und das Ergebnis ist ein Roman und Biografie über Willem Verhulst, der vom Außenseiter zu einer zentralen Figur in Gent während des Nationalsozialismus wurde. Willem Verhulst war ein erbitterter Flame, Nationalsozialist, Frankofonenhasser und Egoist, dem das Schicksal vieler Mitbürger und seiner Familie recht wenig am Herzen lag. Seine übermaßen dargebotene Unterwürfigkeit gegenüber den deutschen Besatzern, seine Härte gegen die eigenen Landsleute und sein stets im Vordergrund stehendes Wohlgefallen zeichnen eine komplexe Persönlichkeit. Ganz anders war seine zweite Frau Mientje, die sich gegen alles Nationalsozialistische, besonders schützend vor die gemeinsamen drei Kinder, stellte, was nicht ohne Konflikte in der Ehe blieb, und suchte Halt in ihrem Glauben. Ihr Leben an Willems Seite war schwierig, denn der Mann opferte sie nicht nur schamlos für seine Ideologie, sondern demütigte sie bis zum Ende durch seine Affäre mit Griet, seiner späteren dritten Frau. Trotz der widrigen Lebensumstände zeugte ihr soziales Engagement vor und auch nach dem Zweiten Weltkrieg von ihrer außergewöhnlichen Stärke und sie blieb allen, die sie kennenlernen durften, als herzliche Frau in Erinnerung.Allmählich nimmt der Mann, den ich so gerne besser verstehen möchte, Konturen an.Sehr gelungen finde ich die Vermittlung der Lebensumstände in Belgien, die eine sehr stimmige Rahmengeschichte bilden, und in die sich die zeitlich versetzten Erzählstränge gut unterbringen lassen. Darüber hinaus sind jene Textstellen, in denen klar hervorgeht, dass in Belgien doch sehr bald bekannt war, wer Hitler war und was er tat, auch mit jüdischen Mitbürgern, erstaunlich. Im deutschsprachigen Sprachraum ist erst in den letzten Jahren ein etwas offeneres zeitgeschichtliches Gedächtnis zu spüren.Wie mir schon bei "Die Fremde" aufgefallen ist, erzählt Stefan Hertmans auch diese Biografie in einem sehr ruhigen Schreibstil. Das führt dazu, dass ich trotz der wenig schmeichelhaften Personenbeschreibung Willem Verhulst eher neutral gegenüberstehe, aber für Mientje, dieser großartigen, warmherzigen, zupackenden und starken Frau den allergrößten Respekt empfinde. Der Roman hätte genauso gut die Biografie von Mientje Verhulst sein können. FazitWillem Verhulst war ein flämischer Nationalist und Offizier der SS während des Nationalsozialismus. Stefan Hertmans, der den Drongenhof in Gent kauft und erst im Nachhinein erfährt, dass dort Willem Verhulst mit Familie wohnte, macht sich auf die Spuren eines Mannes, der von einem Außenseiter zu einem SS-Mitglied und Judenverfolger wurde.Sag mir, Willem, wie viele Signale braucht ein Mensch, bevor er versteht, dass das eigene Schicksal auch Folgen für andere hat?