Dieses Kunstmärchen hat schon viele Illustratoren herausgefordert, ihm durch ihre Bilder allgemeine Gültigkeit zu verleihen. Und es ist wirklich interessant, dass jede Ausgabe eine neue Dimension eröffnet, diesen Text zu interpretieren. Auf jeden Fall gab es schon im Jahre 1849 Kinder, deren Maßlosigkeit die Eltern zum Nachdenken und Handeln brachte. Theodor Storm erzählt diese Geschichte seinem ältesten Sohn, und natürlich werden erfahrene Eltern sagen, dass es dann am eindrucksvollsten ist, dieses herrische "mehr, mehr, mehr!", wenn man zum ersten Mal damit konfrontiert wird. Während der antiautoritären Erziehungspraxis in den 70er Jahren empfand man die Stormsche Lösung des Problems als "schwarze Pädagogik", vielleicht, weil man damals das rettende Ende nicht mehr wahrnehmen konnte, ob des Entsetzens, dass die "böse" Sonne den kleinen Kerl einfach vom Himmel ins offene Meer fallen lässt. Andere haben aber sehr wohl bemerkt, dass da noch jemand war, der den kleinen Häwelmann ins Boot genommen hat, um ihn vor dem Ertrinken zu bewahren. Die Künstlerin Tatjana Hauptmann legt aber den Schwerpunkt gar nicht auf das Ende des Abenteuers. Sie fragt vielmehr, wie es dazu kommen konnte, dass ein kleiner Junge ganz allein durch die Stadt, den Wald und dann in den Himmel reisen muss, um endlich in seinem Hunger nach "mehr, mehr, mehr" befriedigt zu werden. Die ganze Welt soll ihn sehen - man kommt nicht umhin, an junge Menschen zu denken, die vor allem ein großer Star werden wollen -, nur leider: Es ist keiner da, der ihm diese Genugtuung bietet. Ja, wie konnte es dazu kommen? Storm erzählt uns, dass die Mutter nachts schlief, als der Kleine nicht einschlafen konnte... Und genauso haben andere Illustratoren den Anfang dieser Reise illustriert: die schlafende Mutter, die nichts für ihr Kind tun kann. Doch Tatjana Hauptmann stellt dieser Szene ein entscheidendes Bild voran: Am hellen Tag steht die Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm am offenen Fenster, und niemand zweifelt daran, dass sie das den ganzen Tag lang tun wird, und sie zeigt ihm die Welt. Alle Eltern aber wissen, dass die Energie eines Kindes jede Mutter an ihre Grenzen bringen kann, weshalb verständlich ist, dass sie nachts schlafen muss. Es scheint schon vor 150 Jahren Mütter gegeben zu haben, die ganz allein für ihr Kind sorgen mussten, und genau das, so lehrt uns dieses Buch, ist eine Überforderung. "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind gut groß werden zu lassen", lautet ein afrikanisches Sprichwort. Und dieses Buch überzeugt uns davon, dass eine Person ganz sicher nicht ausreicht. Die Betreuungsgelddiskussion wird sicher bald beendet sein; dieses Buch hätte ein wesentlicher Beitrag sein können: "Wenn du und ich nicht gekommen wären...". Wer könnte denn "du und ich" sein? Vielleicht eine gute Kinderkrippe, in der das Kind sich ausleben kann, während die Mutter ein wenig ausruhen darf, um auch nachts die Bedürfnisse ihres Kindes wahrnehmen zu können. Diese Bilder sind sehr ehrlich und fangen die Atmosphäre der einzelnen Szenen sehr stimmig ein. Die Mimik der Akteure ist schon für kleine Kinder eindeutig entschlüsselbar; die entsetzten Sterne, der Schmerz des Mondes und die Entschiedenheit der Sonne sollten ihnen unbedingt zugemutet werden, um sie vor dem eigenen Entsetzen zu bewahren, wenn sie selber fallen, weil niemand da ist, um sie aufzufangen. Gabriele Hoffmann (Leanders Leseladen, Heidelberg)