
Als Sehnsuchtstier durchzieht die Wildgans die jüngere Geschichte. Als das Leben in den Städten des 19. Jahrhunderts schwer erträglich wird, weist sie den Weg in die Natur. In Selma Lagerlöfs Roman «Nils Holgerssons wunderbare Reise» eint sie die schwedische Nation, indem sie einem missratenen Knaben den Sinn von Gemeinschaft offenbart, was auch den deutschen Lesern zum Vorbild wird. Im Ersten Weltkrieg wird sie von den Soldaten in den Schützengräben besungen und ist wenig später in der europäischen Kultur allgegenwärtig: als Wappentier des Naturschutzes, als Heldin der Revolution bei Bertolt Brecht ebenso wie als «Charaktertier des Nordens» bei Bengt Berg, Tierfotograf und Schriftsteller, dessen Träume von germanischen Urlandschaften in die Ideologie des Nationalsozialismus eingehen, im Film, in der Kunst, nicht zuletzt in der Wissenschaft, wo der Zoologe Konrad Lorenz glaubt, in der Graugans die durch die Zivilisation bedrohten Fundamente menschlichen Zusammenlebens entdeckt zu haben. Überall, wo die Wildgans auftritt, wird sie zur Chiffre einer Welt im Umbruch. Thomas Steinfeld folgt ihren Spuren - und zeichnet ein fesselndes Bild des 20. Jahrhunderts.
Besprechung vom 18.11.2025
Weiter Flug bis in die Kinderzimmer
Allerweltwesen und Sehnsuchtstier: Thomas Steinfeld streift auf den Spuren der Beschäftigung mit der Wildgans durch die europäische Kulturgeschichte.
Als Einzelwesen wäre dieses Tier von der Rolle, die der Autor dieses Buchs ihm zuschreibt, überfordert. Grau ist grau und Gans ist Gans. Adler oder Eule wären als zivilisatorische Symboltiere besser geeignet. Wenn es aber über unsere Köpfe hinwegrauscht und wenn die Graugänse beim Vorbeifliegen in ihrer Anordnung ein großes V in den Himmel zeichnen, grenzt das Schauspiel ans Erhabene. Für das Genre des Nature Writing, das heute auf den Büchertischen gefragt ist, wären diese Vögel ein ideales Sujet. Thomas Steinfeld hat aber etwas ganz anderes im Sinn. Nicht Naturbeschreibung ist sein Thema, sondern Geschichtsschreibung, in welcher die nordeuropäische Wildgans durch ihr Verhalten, ihr Wahrgenommen- und Verstandenwerden mitschreibt und tiefer blicken lässt.
Mit ihrem ausgedehnten Wandergebiet zwischen Skandinavien, Nordafrika und Balkan deckt sie ein genügend großes Territorium ab. Bis zur zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts habe ihre Existenz in der allgemeinen Wahrnehmung wenig Beachtung gefunden, schreibt Steinfeld. Von der Kanalisierung der Wasserläufe und Trockenlegung der Landschaften zeitweise verdrängt, sei sie allmählich in den hiesigen Lebensraum zurückgekehrt und über Literatur, Künste, Wissenschaft und Politik zu einem ikonischen Zeugen der jüngeren Geschichte geworden. Sie wurde zu einem Sehnsuchtswesen grenzenloser Wanderschaft bei Hoffmann von Fallersleben, Theodor Storm, Guy de Maupassant, gewann Eigenprofil in "Brehms Tierleben", dessen Bände von 1863 an gleichzeitig mit den Plüschtieren in die deutschen Wohnstuben und Kinderzimmer einzogen. Die Gans fungierte als Symboltier für nationale Bewusstseinsbildung in "Nils Holgerssons wunderbare Reise" von Selma Lagerlöf, flog als ambivalente Traumphantasie über die Gräben des Ersten Weltkriegs hinweg, inspirierte den Jenaer Zoologieprofessor Ernst Haeckel zum Konzept der "Ökologie", diente als Studienobjekt für die Evolutionsbiologie oder die frühe Flugtechnologie, musste unter den Nationalsozialisten als Vorbild für die Germanisierung des Ostens herhalten, wurde bei Konrad Lorenz zur Diva der Tierpsychologie.
Steinfelds Streifzüge durch anderthalb Jahrhunderte europäischer Kulturgeschichte auf den Spuren der Wildgans sind von bestechender Vielfalt. Auf immer neuen Seitenpfaden gelangt man vom Kuriosen zum Signifikanten und zurück zur Anekdote. Man erfährt von den Anfängen der Tierpräparation im frühen achtzehnten Jahrhundert und vom Einzug ausgestopfter Wildtiere in Naturmuseen und Dioramen, sieht mit dem schwedischen Forschungsreisenden Bengt Berg die Idee des Naturschutzraums aufblühen und in die Ideologie einer völkischen Urheimat abgleiten oder lernt bei der Reformpädagogin Ellen Key eine frühfeministische Kritik an Darwin kennen, die in Lagerlöfs mütterlich umsorgender Leitgans Akka ein Gegenmodell zum allgemeinen Überlebenskampf abgab. Ob im zielsicheren Flug oder watschelnd im Gänsemarsch führt dieses etwas schwerfällige Tier aus der immensen Themenstreuung des Buchs immer wieder zur Sache zurück.
Der elegante, mit persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen aufgelockerte Stil des Autors verleiht dem Ganzen eine Leichtigkeit, die das Bedeutsame umso heller aus dem Beiläufigen strahlen lässt. Nie wirkt das angehäufte Wissen pedantisch. Die Vollständigkeitsobsession der zwölfbändigen "Naturgeschichte der Vögel Deutschlands" von Johann Friedrich und Johann Andreas Naumann aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wird ironisch auf Distanz gesetzt. Mit verbindlicher Benennung, exakter Bebilderung und endgültiger Registrierung des durch die deutschen Lande ziehenden Federvolks sei dafür gesorgt worden, dass keine unbekannten Kandidaten mehr die Gegend unsicher machten, schreibt Steinfeld. Auch Leute, die wie Bengt Berg oder Konrad Lorenz ihre Tierliebe mit reaktionären Blut-und-Boden-Ideen und diffuser Menschenverachtung durchmischten, behandelt er lieber mit sachlicher Präzision als mit nachgereichter Verurteilung.
Am besten ist das Buch dort, wo Standpunkte kühl gegen Standpunkte stehen. Das Kulturleben kranke daran, dass es sich nur an der Erdoberfläche abspiele, zitiert Steinfeld den Flugpionier Otto Lilienthal: Könnten die Menschen fliegen, würden die Grenzen imaginär und würde der ewige Friede einkehren. Zwanzig Jahre später, im Jahr 1909, notierte dagegen der Publizist Paul Scheerbart, die "Militarisierung der Luft" werde zum totalen Krieg führen. Souverän, wenn auch mit eher summarischen Quellenangaben im Anhang, umkreist Steinfeld über teilweise politisch vermintem Gelände die Widersprüche zwischen Zivilisationsmüdigkeit und technischem Perfektionierungsdrang, zwischen dem Streben nach unberührter Natur und einschneidenden Schutz-, Einhegungs- und Zuchtstrategien.
Im Übergang von der beschreibenden Naturbetrachtung zur Naturgeschichte und weiter zur Systemwissenschaft wird im Buch wiederholt Darwins Evolutionstheorie als entscheidender Schwellenpunkt angeführt. "Man macht sich keine Vorstellungen mehr davon, mit welcher Gewalt und mit welcher Tiefe der Darwinismus in der damaligen Zeit in das Leben der Menschen eindrang", schreibt der Autor. Die kaleidoskopische Anlage des Buchs erlaubt zwar nicht, diese Tiefe exakt auszuloten. Sie lädt aber im Streiflicht der Apropos zu einem Gang durch die Zeitgeschichte, die man so bisher noch nie durchschritten hat.
Die Fülle der angeführten Zitate und Verweise ermuntert den Leser auch dazu, eigene Leseerinnerungen einzubringen. Hier eine aus den großen Reportagen Antoine de Saint-Exupérys vom Spanischen Bürgerkrieg, die das Sehnsuchtsmotiv der Wildgans besonders anschaulich macht. Der Autor liegt im Unterstand bei den Partisanen der Republik und fragt sich, warum diese einfachen Männer ohne spezielle politische Überzeugung für den Kampf gegen die Faschisten ihr Leben riskieren. Dabei kommt ihm die Erinnerung an Zuchtgänse im Gehege, die beim Vorbeiflug der Wildgänse hoch oben von einer jähen Unruhe gepackt werden und zu ein paar Sprüngen ansetzen, denn "in ihren kleinen Köpfen, wo bisher nur für Teiche, Würmer und Gitterdraht Platz war, macht sich kurz die Ahnung von kontinentaler Weite, Wind, Ferne und der Geographie der Meere breit". Man nenne das, wie man wolle, schließt Saint-Exupéry: Opferbereitschaft, poetisches Gefühl oder Abenteuergeist. Den Gänsen ist das einerlei, sie kommen ohne unsere Geschichtskoordinaten aus. Wir aber offenbar schwer ohne ihre Orientierungshilfe, wie dieses Buch überzeugend nahelegt. JOSEPH HANIMANN
Thomas Steinfeld: "Rauschen in der Nacht". Die Wildgans - eine Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2025.
272 S., Abb., geb.
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