Besprechung vom 30.04.2025
Nur Kunst schafft Ordnung
Dinge sind weniger vergänglich als die Menschen: Tor Ulvens Buch "Grabbeigaben" beschreibt die Erfahrung der Zeit mit hochliterarischen Mitteln
Jeden Tag auf fünftausendzweihundertfünfundfünfzig Hähnchenresten gehend, auf dreihundert Hammelkeulen, einer unbestimmten Anzahl Tonscherben, einem Dutzend getürkter Würfel, einem Pfau, sechshundertdreißig Muscheln (. . .) sowie zahllosen anderen Gegenständen, jeden Tag, nicht wissend um das unter ihnen dort drunten, unter ihrem Stimmengesurre und ihren klackernden Damenschuhabsätzen." So fängt es an, mit einer beliebig zu erweiternden Schilderung dessen, was unter unserer Jetztzeit verschüttet liegt, wobei, so Tor Ulven an anderer Stelle, "das vor zwei Minuten Geschehene nicht weniger vergangen ist, als was vor zweitausend Jahren geschah".
Vergänglichkeit also ist das Thema, das hier angeschlagen wird, auch wenn der Autor sich 1993, eineinhalb Jahre vor seinem Freitod, "nicht so sicher" gab, "ob Vergänglichkeit mein wichtigstes Thema ist. Ich würde eher die Zeit vorschlagen, oder die Erfahrung von Zeit." Ein genuines Motiv von Literatur also. Nicht nur um das Verschüttete (und zugleich Konservierte; das Modell ist hier Pompeji, dessen erstarrtes Bild im Text auch hinreichend geschildert und verlebendigt wird) geht es in diesem Buch, dem Ulven zutreffend die Gattungsbezeichnung "Fragmentarium" verliehen hat, sondern auch um die zahlreichen Formen von Gleichzeitigkeit.
Bereits am Anfang wird eine Schallplattenaufnahme vom 22. November 1953 vorgestellt. Der greise Toscanini dirigiert in der Carnegie Hall Brahms' Tragische Ouvertüre, gespielt vom NBC Symphony Orchestra. "Es verursacht mir ein Gefühl gewissen historisierenden Schwindels, daran zu denken, dass ich (. . .) faktisch drei Jahre lang zeitgleich mit dem uralten Mann gelebt habe und faktisch, am 22. November 1953, eine knappe Woche alt war, dass ich (. . .) zu dem Zeitpunkt wirklich (. . .) existierte, fernab von New York, in völliger Unkenntnis über Brahms (. . .)." Auch das bekannte Faktum, dass das Licht der Sterne uns erreicht, nachdem diese selbst längst erloschen sind, also aus einer Zeit vor unserer Geburt zu uns kommt, findet Erwähnung.
Es wird hier eine Art literarischer Archäologie betrieben, die Zeit und Raum umfasst. Akteure dieser Archäologie sind, wie sich nach und nach herausstellt, zwei Figuren (m/w, wie es in einer heutigen Stellenausschreibung heißen würde), die zumeist in der dritten Person, zuweilen aber auch in der ersten auftreten. Aber wenn auch - zum Teil explizit in Gestalt von Bildbeschreibungen - das Stillleben überall präsent ist, ist ihre Schilderung auf diesen gerade mal 130 Seiten von enormer Plastizität und Sinnlichkeit, das Ganze eine großartige Schule der Wahrnehmung in Gestalt aller fünf Sinne, wie sie so nur selten zu finden ist in der Literatur.
Ulven hat Beckett und Claude Simon ins Norwegische übersetzt und auch den nouveau roman gründlich rezipiert, aber seine Schreibweise ist fern aller Dogmatik etwa eines Robbe-Grillet, und sie ist auch detailversessener und sinnlicher als die von Beckett. Es ist auf jeden Fall ratsam, die Szenenfolge langsam zu lesen und nicht zu "verschlingen". Mit einer irgendwie gearteten Sperrigkeit des Textes hat das aber nichts zu tun.
Denn der scheut auch vor Slapstick nicht zurück. Die männliche Figur, übrigens offenkundig ein Archäologe ("er selbst hatte gerade Urlaub, keine Ausgrabungen") ist mit dem Auto unterwegs, um persönlich eine Todesnachricht zu überbringen, und fährt in einem kleinen Ort an einer Kneipe vorbei, davor "ein älterer, dicklicher, dünnhaariger Mann in komplett grauem Anzug, mit weißem Hemd und roter Krawatte, barock genug, bei der Hitze; er stand leicht vornübergebeugt, wie unmittelbar vor einer höflichen Verbeugung, und hielt eine rechteckige Pappschüssel ungefähr auf Brusthöhe, Kartoffelsalat oder etwas Ähnliches, die rechte Hand um eine weiße Plastikgabel mit darauf befindlicher Speise geschlossen, den Mund bereits geöffnet". Bevor aber die Geste abgeschlossen werden kann, treffen sich beider Blicke durch die Windschutzscheibe, und dann ist das Auto vorbei, "er hatte den Anzugträger seine Nährgebärde nie vollenden sehen, der Mann blieb einfach dort stehen, im Wachskabinett seiner Erinnerung" - ein Tantalus, der seine Speise nie erreichen wird.
Die Dinge sind weniger vergänglich als die Menschen, lernen wir bei Ulven, "denn unsere Häuser sind Museen, ohne dass wir es bemerken, die Dinge bleiben wie immer klaffend nach uns zurück, schon während wir schlafen". Für den literarischen Archäologen allerdings verhält es sich so, dass die Spuren schon vor ihm da sind und auf ihn warten.
Mehr noch: Die weibliche Figur erinnert sich an ein Gemälde, das aus der Vogelperspektive einen Regentag in einer namenlosen Stadt wiedergibt und das sie in irgendeinem Museum gesehen hat. Ein Bild ohne tiefere Symbolik oder Rätselhaftigkeit, und dennoch überwältigend für die Betrachterin, denn es "saugte, ein Schwamm mit rückwirkender Kraft, alle von ihr erlebten Regentage in sich auf oder eigentlich die Erinnerung daran (. . .), sodass das Gemälde Erinnerungen besaß, die sie selbst vergessen hatte, als schwelte unter der Leinwand ein ganzes Album unentwickelter Bilder aus ihrem eigenen Leben, oder sogar aus dem völlig unbekannten Leben anderer".
Der literarische Archäologe Ulven selbst muss glücklicherweise im Deutschen nicht mehr ausgegraben werden. Seit 2012 nimmt sich der Droschl-Verlag des Werks an und veröffentlicht sukzessive Ulvens Prosa in kongenialer Übersetzung des österreichischen Autors Bernhard Strobel. "Grabbeigaben", im Original 1988 erschienen, war Ulvens erste Prosaarbeit; vorher hatte er ausschließlich Lyrik veröffentlicht. In Norwegen selbst gilt er seit Langem als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Autoren des Landes. Ausländische Verlage haben das Glück, mit Karl Ove Knausgårds Satz "Tor Ulven, das war das Höchste" werben zu können.
Was literarischen Rang ausmacht (auch den eigenen), hat Ulven im Grunde in dem bereits erwähnten Interview selbst so erklärt: "Kunst ist immer Ordnung und Form, das Leben ist relative Unordnung und Formlosigkeit." Wer diese Aussage als Plädoyer für l'art pour l'art versteht, wird durch Ulvens Prosa schnell eines Besseren belehrt. Die kreist nicht um sich selbst, sondern um das sogenannte wirkliche Leben in all seinen Spielarten, aber immer im ständigen Bewusstsein seiner Endlichkeit.
Tor Ulvens "Fragmentarium" ist das genaue Gegenteil eines Sammelsuriums. Dem Anspruch an die Form, die dieser Schriftsteller an die Literatur gestellt hat, ist er selbst im höchsten Maß gerecht geworden, und das kann seine Leser glücklich machen. JOCHEN SCHIMMANG
Tor Ulven:
"Grabbeigaben".
Fragmentarium.
Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel. Droschl-Verlag,
Graz 2025.
131 S., geb.
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