Zum Inhalt:
Der bekannte Rassismusforscher Ibram X. Kendi und die Historikerin Keisha N. Blain haben 80 Autoren und Autorinnen und 10 Dichter/innen der afroamerikanischen Community in ihrem gemeinsam herausgegebenem Buch "400 Seelen" zusammengebracht, um 400 Jahre afroamerikanische Geschichte aus ihrer ganz persönlichen Sicht in Erzählungen und Gedichten zusammenzufassen. Beginnend mit 1619, als die White Lion` mit etwa 20 schwarzen Sklaven an der Küste von Virginia anlegt, noch vor der Mayflower, fängt somit auch die afroamerikanische Geschichte an. Jeder einzelne Beitrag in diesem Buch befasst sich mit historischen Geschehnissen und bedeutsamen Ereignissen, die vermutlich in kaum einem Geschichtsbuch zu finden sind.
Meine Leseerfahrung:
Nachdem ich die Antirassismus-Bücher von Ibram X. Kendi gelesen hatte, hatte ich bereits die Erfahrung, Geschichte aus einem völlig anderen Blickwinkel zu erleben. Mit "400 Seelen" führt uns Kendi tiefer in die afroamerikanische Geschichte ein und stellt uns vergessene oder verdrängte Geschehnisse, erlassene Gesetze und zum Teil historische Persönlichkeiten vor, die sonst nirgends in Geschichtsbüchern auftauchen, sie aber gleichwohl Amerika in den letzten vier Jahrhunderten auf ihre eigene Art und Weise mitgeprägt haben.
Das Buch ist in 10 Teile unterteilt; die einzelnen Beiträge behandeln bestimmte zeitliche Abschnitte der Geschichte, wobei das gesamte Buch chronologisch aufgebaut ist. Am Ende gibt es einen Teil mit Anmerkungen zu den Fußnoten sowie einen Anhang mit Infos zu den Autoren und Autorinnen. Selbst die deutschen Übersetzer und Übersetzerinnen der Texte werden ganz zum Schluss vorgestellt.
Besonders bewegt hat mich beispielsweise die Geschichte der Sally Hemings, die in sehr jungen Jahren zur Konkubine des Außenministers Thomas Jefferson (Amtszeit 1790-1794) wurde und in "wilder Ehe" mehrere Kinder mit ihm gezeugt hat. Unvorstellbar und skandalös zu dieser Zeit und wahrscheinlich auch deswegen eine totgeschwiegene Begebenheit. Im Gegensatz dazu wurde 1630 ein Weißer wegen Beischlafs mit einer Schwarzen Frau noch ausgepeitscht, und das in aller Öffentlichkeit - an anderer Stelle in einem Essay von Ijeoma Oluo nachlesbar.
Ebenfalls ein sehr bewegender Text ist auch "Baumwolle" von Kiese Laymon. Hier wird der Baumwollanbau angeprangert, ohne den womöglich keine Sklaven in den Süden Amerikas geschickt worden wären. Wie sähe das heutige Amerika dann wohl aus?
Gegen Ende sind dann auch Beiträge enthalten, die eher die Neuzeit ab den 80er Jahren betreffen: Themen wie die amerikanische Drogenpolitik, Hip-Hop und die Five Percent Nation, Hurrikan Katrina und schließlich Black Lives Matter.
Mit 672 Seiten ist das Buch ein ordentlicher Schmöker, aber die Reise in die wahre Vergangenheit ist es auf jeden Fall wert. Es ist nicht nur ein Buch über Leid und Trauma, sondern auch eins über Stärke, Ausdauer, Gleichberechtigung und jahrhundertelangem Kampf ums Dasein.
Fazit:
Ibram X. Kendi hat mit "400 Seelen" ein herausragendes Werk zusammengetragen, das einen völlig anderen Blickwinkel in die afroamerikanische Geschichte bietet und für tieferes Verständnis im Hinblick auf die Entstehung der Schwarzen Community und der BLM-Bewegung sorgt. Ein sehr starkes und bewegendes Buch über den jahrhundertelangen Kampf der Afroamerikaner gegen Unterdrückung, Intoleranz und Hass!