Besprechung vom 13.04.2025
In einem deutschen Haus
Von Niklas Maak
Ein neu gebautes Haus ist nicht viel mehr als ein Entwurf, in den man hineintreten kann: Es steht dort mit seinen weißen Räumen in Erwartung des Lebens, das dort einziehen soll wie eine Papierzeichnung, die gerade erst Realität geworden ist: alles noch unberührt und ein bisschen irreal. Es ist seltsam, historische Fotos zu sehen von Altbauten in dem Moment, in dem sie Neubauten waren; bevor sich das Leben in sie ergoss; bevor in ihren Räumen gefeiert, geschlafen, geweint, geliebt, gearbeitet, vermisst, getrunken und nachgedacht wurde, bevor dieser noch reine Erwartungsbau von Möbelpackern und Liebenden und Kindern durchtobt, ramponiert, erschüttert und verkratzt wurde und draußen vor der Tür die Weltgeschichte aufmarschierte und bis in die letzten Winkel des Hauses drang.
In dem Buch, das die Germanistin Claudia Saam und der Historiker Wolf-Rüdiger Baumann vor Kurzem unter dem Titel "Ein Haus schreibt Geschichte" (Transit Verlag) veröffentlicht haben, gibt es ein solches irritierendes Foto eines Berliner Altbaus aus der Zeit, als er brandneu war. Das Foto stammt aus dem Jahr 1904, entworfen hatte das Stadthaus der Reformarchitekt Albert Gessner, der sich vom klobigen Neorenaissance-Stil des Wilhelminismus absetzte mit einem Jugendstil, der eher vom britischen Landleben träumte als vom Großdeutschen Reich. Das freundliche Haus hat runde und eckige Erker, jede Wohnung hat einen eigenen Grundriss, es gibt Balkendecken und Kreuzgewölbe, Salons und Ateliers, Loggien und einen Garten mit einem Springbrunnen und sieht insgesamt aus, als hätte man ein paar Landhäuser auseinandergebaut und zu einem einzigen neuen zusammengenäht. Es zog ein wohlhabendes liberales Bürgertum ein, das es damals in Berlin noch gab. Für eine Siebenzimmerwohnung zahlte man im Jahr die Hälfte dessen, was man dort heute im Monat in Euro zahlt: 3600 Mark. Saam und Baumann wohnen seit 2009 in diesem Haus. Fragen kommen auf: Wer saß in diesem Erker, in diesem Hof vor vierzig, vor achtzig, vor 120 Jahren? Was wurde da geredet, was passierte in diesen Fluren?
Die sogenannten Stolpersteine vor der Tür, die an die deportierten und ermordeten jüdischen Bewohner erinnern, haben sie dazu gebracht, nach den Geschichten derer zu forschen, die in diesem Haus in der Mommsenstraße 6 einmal gewohnt haben. Da war zum Beispiel Emil Lessing, Regisseur am Deutschen Theater, der zuvor in der von Bruno Wille für die "vernachlässigten, bildungshungrigen Arbeitermassen" gegründeten Volksbühne Regie geführt hatte und über den in einem Polizeibericht zu lesen war, er stehe "mit Anarchisten in enger Fühlung", außerdem sei er mit seiner Frau "aus der Landeskirche ausgetreten", also eindeutig eine Gefährdung der öffentlichen Moral, aber "in finanzieller Beziehung in einem guten Ruf". Seinen guten Ruf ruiniert ihm dann später der Theaterkritiker Alfred Kerr, der ihn nur "Reklamovicz Klimbimski" nennt.
Lessing zieht aus dem Haus aus und stirbt 1921. Andere blieben länger; im ersten Stock residiert ab 1910 Oscar Bie, Leitender Redakteur der "Neuen Rundschau"; Harry Graf Kessler, der Komponist Engelbert Humperdinck und auch Siegfried Wagner kommen zu Gast. Es zieht auch Leo Blech ein, preußischer Generalmusikdirektor und von jüdischer Herkunft wie Bie; die Tochter wird in diesem Haus geboren, Blech parkt seinen Fiat auf der von Autos noch fast freien Straße, die Straßen sehen damals, als die meisten zu Fuß gehen, geradezu surreal leer aus. Dann sind dort noch Else und Fritz Wolff, die Malerin und der Karikaturist, beide aus großbürgerlichen jüdischen Familien stammend. Sie waren mit Else Lasker-Schüler befreundet, die auch oft in dieses Haus kam, im Café des Westens streiten sie sich mit Kurt Hiller, und Fritz Wolff, Bruder des Journalisten Theodor Wolff, zeichnet die Berliner des neuen Justemilieu der zwanziger Jahre so präzise, scharf und lustig, dass man noch heute beim Betrachten der Zeichnungen glaubt, sie herumkrakeelen zu hören. In den Altbauwohnungen, wo heute riesige Tische für zehn Leute stehen, die den Preis von Kleinwagen haben und an denen dann doch nur ein oder zwei Kinder sitzen, wurde damals gemalt, gefeiert, mit ein paar Dutzend Leuten diskutiert. Dann aber, Anfang März 1933, fliehen zuerst die Wolffs. In Paris warten sie, dass, wie Wolff im Hotel Odessa am Montparnasse schreibt, die "Hitler-Flut" abebbe. Sieben Jahre später stirbt er in Frankreich, seine Frau muss sich im Krieg verstecken, ihr Werk geht verschollen, Nazis ziehen ins Haus, nach 1945 sind die Russen da.
Saams und Baumanns schönes Buch zeigt aber vor allem, dass ein einziges Haus wie dieses gereicht hätte, um einer ganzen Stadt eine dauerhafte kulturelle Blüte und die neue Gesellschaft zu geben, von der sein Architekt geträumt hatte; und dass es sie für einen kurzen Moment sogar gegeben hatte.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Ein Haus schreibt Geschichte" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.