Mit dem Begriff "Reaktanz" konnte ich bis zur Lektüre dieses Buches nichts anfangen und doch ist sie überall: in persönlichen Gesprächen, gesellschaftlichen Debatten, im Beruf und in der Familie. Schnell regt man sich auf, blockt ab - und dann? Carmen Thomas bringt dank langjähriger Erfahrung als Moderatorin und Coach das nötige Arsenal mit, um dem Phänomen alltagsnah zu begegnen.Einzigartig ist vor allem der Ansatz, den der Untertitel schon andeutet: Die Reaktanz ist erstens eine natürliche Reaktion, eine Art "Gerechtigkeitssensor". Zweitens soll reaktantes Verhalten nicht etwa abgeschwächt, ignoriert oder mit Verweis auf Hierarchien abgekanzelt werden sondern "umgenutzt". Das klingt nach einem grundsätzlich wertschätzenden Vorgehen, das sowohl der jeweiligen Situation als auch reaktant reagierenden Gesprächspartnern keinen grundsätzlichen Fehler oder gar Unerwünschtheit unterstellt. Vielmehr birgt die Reaktanz neben ihrer augenscheinlichen Nervigkeit auch jede Menge Potenzial, das es zu nutzen gilt.Es ist ein Wagnis, den Widerspruch oder die Ablehnung anderer Gesprächspartner auch als Chance zu betrachten, doch anhand zahlreicher Beispiele zeigt die Autorin, wie es gehen kann. Als Moderatorin vieler Live-Sendungen mit direktem, spotanem Publikumskontakt mangelt es ihr nicht an Erfahrung mit entsprechenden Situationen. Und selbst wenn sich einmal scheinbar gar keine Lösung finden lässt behält sich die Autorin vor, noch aus der Situation zu lernen; man hat sich quasi nie umsonst bemüht.Als das Buch 2020 erschien gab es schon reichlich gesellschaftliche Diskussionen, die Menschen allen Alters reaktant reagieren ließen, nicht zuletzt die durch die Verwendung einer neuen Schreibweise in diesem Buch nochmals angeheizte Gender-Debatte. Nun ist im Zuge der Corona-Pandemie noch ein weiteres hitzig diskutiertes Thema im Umlauf, das Reaktanz bis hin zum Abblocken sämtlicher Argumente heraufbeschwört.Darauf ist man mit dem Handwerkszeug aus diesem Buch nicht zwingend vorbereitet, denn die unterschiedlichen Reflexions- und Auswertungsmethoden richten sich eher an Führungskräfte und angehende Moderatoren, also Menschen, denen Reaktanz vor allem als eine Art Anfechtung in Gruppengesprächen begegnet. Dennoch hilft die Lektüre, das Phänomen als solches erst einmal zu verstehen und anzunehmen, bevor man sich das eigentliche Problem anschaut. So entsteht eine ganz neue Haltung gegenüber reaktanten Gesprächspartnern, die im Idealfall ein bereicherndes Gespräch auf Augenhöhe ermöglicht, selbst wenn man sich nicht einig ist. Davon braucht die Welt mehr.