Besprechung vom 24.11.2021
Durch schwierige Zeiten
Unter Gleichgesinnten: Dmitri Schostakowitsch als Briefschreiber
Wie unterschiedlich interpretierbar das musikalische Schaffen von Dmitri Schostakowitsch ist, belegt eine Reihe von Deutungsversuchen. Ob aber etwa die lange im Schreibtisch verwahrte Vierte Sinfonie den Komponisten tatsächlich im Fall einer frühen Veröffentlichung in Gefahr gebracht hätte, muss ebenso offenbleiben wie die Einschätzung der Fünften, jener "schöpferischen Antwort eines sowjetischen Künstlers auf berechtigte Kritik", die 1937 zum zwanzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution uraufgeführt wurde.
Schostakowitsch hat sich aber nicht nur musikalisch, sondern auch in Worten geäußert. Darunter in 173 Briefen, Postkarten und Telegrammen an seinen Freund Iwan Sollertinski. "Mein lieber Freund Iwan Iwanowitsch", schreibt er da, "selbstredend ist der heutige Tag der glücklichste Tag meines Lebens: Ich habe Stalin gesehen und gehört." Ausdruck verinnerlichten Personenkults oder eine kaum maskierte Doppeldeutigkeit, wie sie unter Freunden möglich ist? Denn eine enge Freundschaft muss es gewesen sein, die den ansonsten eher unnahbaren Schostakowitsch mit dem vier Jahre älteren Musikologen Sollertinski - er sollte schon 1944 sterben - seit ihren Studientagen verband.
Heutige Leser dieses Briefwechsels, von dem nur Schostakowitschs Part erhalten ist (an ihn gerichtete Post hat er vernichtet), können sich nun ein Bild machen von dieser Freundschaft, die eine Beziehung unter Gleichgesinnten, vielleicht aber auch eine Art Flucht aus sonstiger Bindungslosigkeit gewesen ist. Sowohl Schostakowitsch als auch Sollertinski lebten seinerzeit in wechselnden Partnerschaften und Ehen, waren arrogant, frech und natürlich stark von den unruhigen Zeitläuften geprägt. Den Austausch darüber hätte man sich gern ein wenig ausführlicher und tiefschürfender gewünscht.
Denn allzu viel versprechen sollte man sich von der Lektüre dieser Briefe nicht. Brisante Enthüllungen enthält die äußerst sorgfältig edierte Publikation, deren russische Erstausgabe bereits 2006 erschien, keine. Am ehesten bieten die ausführlichen Kommentare Aufschluss über die Reaktionen auf Ereignisse in den Jahren von 1927 bis 1944, in die revolutionärer Aufbruch, stalinistischer Terror und Weltkrieg fallen. Schostakowitschs Briefe sind Wortmeldungen eines aufstrebenden Komponisten, der sich in jugendlichem Ungestüm äußert, über die Jahre selbstbewusster und gleichzeitig von Konkurrenten und linientreuen Dogmatikern angefeindet wird.
Der für Schostakowitsch durchaus bedrohliche Prawda-Artikel "Chaos statt Musik", erschienen Anfang 1936 nach einem Besuch Stalins in einer Aufführung der Oper "Lady Macbeth von Mzensk", veränderte für den Komponisten von einem Tag auf den anderen fast alles. Fortan war die Angst sein Begleiter. In den Briefen an Sollertinski wird das nur gestreift. Wobei freilich nicht überliefert ist, was die beiden Freunde miteinander besprochen haben, wenn sie sich persönlich trafen, worüber die Herausgeber aber nicht spekulieren. Immer wieder geht es um Schilderungen des Alltags: "In den letzten 3 Tagen habe ich 4 Stunden geschlafen. Ich habe Hunger, aber beim Anblick der vortrefflich genährten Kakerlaken, die im Borschtsch schwimmen, (. . .) ergreift mich das Grauen."
Man könnte meinen, der 1941 wegen des Krieges von Leningrad nach Kuibyschew evakuierte Schostakowitsch sei damals ständig unterwegs gewesen, so oft sind Berichte von Reisen zu lesen. Noch öfter das Drängen auf Lebenszeichen des Freundes: "(. . .) hoffe ich fest darauf, dass Du mich in diesem für mich außergewöhnlich schweren Augenblick meines Lebens nicht allein lässt, denn der einzige Mensch, dessen Freundschaft mir so teuer ist wie mein Augapfel, bist Du."
In diesen Briefen, deren Stil zwischen pathetisch und hölzern wechselt, zeigt sich eine Persönlichkeit, die einem beim Lesen zwar nicht unbedingt sympathisch wird, aber Respekt abnötigt. MICHAEL ERNST
Dmitri Schostakowitsch: "Briefe an
Iwan Sollertinski".
Hrsg. von Dmitri Sollertinski und Ljudmila Kownazkaja. Aus dem Russischen von Ursula Keller. Wolke Verlag, Hofheim 2021. 256 S., br.
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