Besprechung vom 25.09.2024
Wie Mehltau der Tod auf den Tagen
Sie war das poetische Irrlicht der Jazz-Ära: Die ungeheure Lyrikerin Edna St. Vincent Millay tritt uns neu in der zweisprachigen Ausgabe von "Journal" entgegen.
Edna St. Vincent Millay starb im Oktober 1950 im Alter von 58 Jahren in ihrem Farmhaus in Austerlitz im amerikanischen Bundesstaat New York an den Folgen eines Sturzes von der Treppe. Vermutlich hatte sie im selben Jahr das "Journal" geschrieben (nach ihrem Tod von ihrer Schwester Norma veröffentlicht in der Gedichtsammlung "Mine the Harvest"). Es sind Aufzeichnungen voller Todesahnung, in denen sie Rechenschaft ablegt über ihr Schreiben und Denken. "This book, when I am dead will be / A little faint perfume of me", beginnen die Notate. Und Günter Plessow übersetzt: "Dies Heft wird, wenn ich tot bin, ein / Parfum, ein Hauch nur von mir sein." Wer sie kannte, so die Autorin weiter, solle sagen, "She really used to think that way". Und doch schreibe sie nicht, um im Text ihre irdische Existenz zu überleben, sondern sie schreibe, weil sie lebendig sei und voller verrückter Gedanken. Schreiben war Leben war Verströmen. Wie eine Blume, die eben duftet, entließ sie eine Essenz. Oder wie sie es einmal benannte: "Meine Kerze brennt an beiden Enden / Sie wird die Nacht nicht überdauern." Ihr Leuchten bezahlte sie mit einem radikalen Liebesleben, zu dem Alkohol und Morphium gehörten.
Edna St. Vincent Millay ist im deutschsprachigen Raum so gut wie nicht bekannt. Der um eine knappe Generation ältere Rudolf Borchardt (1877 bis 1945) hat früh in ihr eine sexuell freie und doch kulturkonservative Sappho sehen wollen und ihre Sonette übersetzt, ohne dabei die spielerische Lakonie ihrer Sprache zu finden.
Ein vielleicht wirkungsmächtigerer Aufsatz des elitären Denkers über das Phänomen Millay konnte erst postum erscheinen und blieb wirkungslos. Dabei war Edna St. Vincent Millay im Amerika der Zwanziger- und Dreißigerjahre ein Star. Klein (1,50 Meter), schmal, grüne Augen, rötliches Haar, erreichte ihre irisierende Erscheinung, die zwischen dem Mädchen aus Maine und der femme fatale aus Manhattan wechselte, ein jubelndes Publikum. Sie war das poetische Irrlicht der Jazz-Ära. Ihre Stimme im Radio blieb Legende. In den Straßen zitierte man ihre Verse, die melodisch eingängig waren und skandalös libertinär. Sie stand auf der Liste der zehn bedeutendsten Frauen des Landes, und es gab eine Briefmarke mit ihrem Gesicht. 1932 erhielt sie den Pulitzerpreis für Poesie. Im Hollywood-Film "Without love" (deutsch "Zu klug für die Liebe", 1945) spricht im Schlafwagen Jamie (Audrey Hepburn) gegenüber dem an Lyrik wie an der Liebe wenig interessierten Pat (Spencer Tracy) Zeilen aus "Du musst nicht freundlich sein, wenn du gehst".
Edna St. Vincent Millay war die älteste von drei Töchtern einer starken Mutter, die ihren spielsüchtigen Mann früh davonschickte und sich und die Kinder als Krankenschwester knapp durchbrachte. Edna, auf deren literarische wie musikalische Bildung die Mutter Wert legte, wurde von ihr, wie man heute sagen würde, parentifiziert. Schon als Achtjährige ersetzt das Mädchen den Mann im Haus. Die Gedichte, die sie mit sechzehn ihrer Mutter schenkt, erklärt sie lachend als Liebesgedichte, nein, nicht die einer Tochter, sondern die eines Liebhabers. Millay, die neben "Edna" den Namen ihrer Geburtsklinik "St. Vincent" trug (der Bruder der Mutter war dort gegen jede Erwartung gerettet worden), liebte Männer wie Frauen mit einer provozierenden Flüchtigkeit. Als sie einunddreißig war, heiratete sie einen zwölf Jahre älteren Mann, der bereit war, sie zu beschützen und auch ihre Liebschaften zu akzeptieren, wenn sie nur schriebe. Mit ihrer Jugend verlor Edna ihre Schönheit, die jene kleinen Abweichungen aufwies, durch die sie unverkennbar war. Politische Lyrik brachte sie auf ein Nebengleis. Sie wurde vergessen.
Dankenswerterweise hat Günter Plessow (Jahrgang 1934) immer wieder Edna St. Vincent Millay übersetzt. 2004 "Love ist not all", 2018 "Sämtliche Sonette" und nun das "Journal". Vielleicht ist er diesmal beim Versuch, "in der deutschen Umgangssprache nach Analogien" für "die Rhythmik und sprachliche Gestik" zu suchen, etwas weit gegangen. Eine Alterssouveränität erlaubt ihm, frei und interpretierend zu übertragen, wo Millays Bilder einfacher, offener, spröder sind. Aber in dieser zweisprachigen Ausgabe ist es ein Leichtes, hin- und herzuschauen. Und sich am Original und an der Variation zu freuen.
Nach dem Entrée des Parfum-Gedichts folgen weitere sechsunddreißig kurze vierhebige Poeme, die, scheinbar harmlos liedhaft oder nahe an einem lockeren Parlando, über die letzten Dinge nachsinnen. Was heißt es, ein Mensch zu sein? Wie viel können oder dürfen wir im Leben wissen; sollen wir den Schlüssel zu Blaubarts Zimmer lieber liegen lassen? Wie seltsam weise ist das Empfinden gegenüber dem Verstand? Und wie notwendig sind Zweifel und der Mut, sich selbst zu widersprechen? Was bedeutet es, dass der Tod immer schon "wie Mehltau" seinen Schatten auf die Tage wirft? Am Ende sitzt er in der Katze, die dem Ich beim Schreiben zusieht, und schnurrt gemütlich: "Some day - some day -".
Mehrere Gedichte entwickeln Gedankenbilder über die Sinne. Einst schien das Sehen der aktivste Sinn. Im Alter gibt Millay dem Hören den Vorzug: Nicht in der Stadt, aber im Wald und an der See könne sie sich leicht zurechtfinden, wenn sie blind wäre. Am Rauschen der Wellen würde sie den Schaumkamm erraten, der sich kräuselt, bricht und abflacht, um im schnell kriechenden, schlammigen Wasser sich auszudehnen wie ein weißer Tintenfleck auf einem Löschpapier. Eine Apfelplantage könnte sie auch am Duft erkennen, freilich. Und sofort die schwarze, regenglänzende Borke eines Stamms und die dicken weißen und roten Blüten der Zeige imaginieren. Aber wenn sie einen Apfel nur fallen sähe, dann wäre da nicht dieser kleine Ruf, der sagt, dass die Frucht die Erde erreicht hat und alles gut ist.
Übrigens hat 2014 der Philologe Ernst Osterkamp einen schönen kommentierten Bildband zu Edna St. Vincent Millays Leben und Werk herausgegeben. Es gilt, nun endlich eine erstaunliche Frau und Lyrikerin zu entdecken. ANGELIKA OVERATH
Edna St. Vincent Millay: "Journal".
Aus dem Englischen von Günter Plessow. Engeler Verlag, Schupfart 2024.
84 S., br
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