
Besprechung vom 09.10.2025
Moralität muss man sich leisten können
Gertrude Lübbe-Wolff warnt vor der Blauäugigkeit, dass Korruption in Deutschland kein Problem sei
Nicht unser Problem, das ist bis heute die vorherrschende Haltung in Deutschland zum Thema Korruption. Mögen sich Italien, Rumänien oder die Ukraine, ganz zu schweigen von afrikanischen und südamerikanischen Staaten, mit der Seuche der Korruption herumschlagen - Deutschland ist weitgehend sauber, und wenn auch hier Korruptionsfälle aufgedeckt werden, dann handelt es sich um das individuelle Versagen einzelner Personen. Die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff warnt in ihrem detailgesättigten und messerscharf argumentierenden neuen Buch vor so viel Blauäugigkeit. Zwar gehöre Deutschland mit seinem neunten Platz auf dem internationalen Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) gegenwärtig noch zu der recht kleinen Gruppe von Staaten, die nicht hochgradig korrupt seien. Aber zum einen sei Deutschland mit 78 von den möglichen 100 Punkten vom Integritätsspitzenreiter Dänemark, der auf 90 Punkte kommt, so weit entfernt wie in die andere Richtung von Chile (66 Punkte) und weiter als zum Beispiel von den Vereinigten Arabischen Emiraten (68 Punkte). Zum anderen nähmen die Korruptionsrisiken weltweit zu und würden aller Voraussicht nach auch Deutschland in Mitleidenschaft ziehen, wenn nicht gezielte Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
Risikosteigernd wirkt nach der Analyse Lübbe-Wolffs zunächst die wachsende Internationalisierung politischer, wirtschaftlicher und humanitärer Aktivitäten. "Denn Korruption ist ansteckend, und die Ansteckungswahrscheinlichkeit wächst mit der Dichte der Kontakte." Wer Geld vergibt, gleichgültig, ob es sich dabei um einzelne Staaten oder internationale Organisationen handelt, der ist in besonderer Weise anfällig für Korruption. Wer auf fremden Märkten bestehen will, wo ohne Korruption nicht eine einzige Genehmigung zu erlangen ist, der kann nicht anders, als auch seinerseits in die Tasche zu greifen. Mit reinem Gutmenschentum kommt in diesen Situationen auch der Gesetzgeber nicht weit. Ein Staat, der seinen Staatsangehörigen trotzdem die Auslandsbestechung verbietet, bekämpft unter dem Strich nicht die Korruption, sondern überlässt lediglich den Angehörigen weniger skrupulöser Staaten das Feld.
Für dieses Dilemma gibt es ebenso wenig eine einfache Lösung wie für den Konflikt zwischen dem Ziel der Korruptionsbekämpfung und dem Anliegen, die eigenen politischen Bündnisse zu stärken. Wie soll beispielsweise die EU mit den Beitrittswünschen der Westbalkanstaaten, der Republik Moldau oder der Ukraine umgehen, die allesamt mit massiven Korruptionsproblemen zu kämpfen haben, und, wie Lübbe-Wolff feststellt, dem Staat mit dem weltweit schlechtesten CPI-Wert, Somalia, näher stehen als dem Staat mit dem besten, Dänemark? Einerseits will man diese Staaten nicht Russland oder China in die Arme treiben, andererseits sind sie bei Weitem noch nicht reif für den Beitritt zu einer Union, die nicht selbst in zunehmende Korruption abdriften will.
Auch das Vordringen der organisierten Kriminalität, der namentlich aus dem Drogenhandel ungeheure Geldmittel zur Verfügung stehen, von denen nach einer Schätzung der EU-Kommission bis zu 30 Prozent für Bestechung ausgegeben werden, stellt ein massives Korruptionsrisiko dar. Risikosteigernd wirkt schließlich auch die Einwanderung von Personen, die häufig aus Staaten mit endemischer Korruption kommen und die die Bedienung von Loyalitätserwartungen innerhalb von Familien oder anderen persönlichen Netzwerken als überlebensnotwendige Strategie kennengelernt haben.
Solche Migranten legen diese Prägungen nicht ab, sobald sie in einem besser funktionierenden Staat ankommen. Umgekehrt eröffnet die Präsenz vieler Menschen, die weitgehend sprach- und rechtsunkundig sind, auch vielen Alteingesessenen die Gelegenheit zur Ausnutzung und zum Missbrauch. Last, not least wirkt auch die Krisenhäufung der letzten Jahrzehnte als eine Art Konjunkturprogramm für Korruption. Auf Krisen muss rasch und zumeist durch die Bereitstellung großer Geldsummen reagiert werden, während die gewöhnlichen Kontrollmechanismen zurückgefahren werden. Die Verlockung ist groß, diese Situation auszunutzen, um sich mit gütiger Mithilfe der für die Geldverteilung zuständigen Personen ein schönes Stück vom Kuchen zu sichern.
Strukturelle Krisen bewältigt man weder dadurch, dass man sie ignoriert, noch dadurch, dass man sie auf die unmoralische Gesinnung einzelner Akteure zurückführt. Moralität muss man sich leisten können, und man kann sie sich nur leisten, wenn die institutionellen Rahmenbedingungen so ausgestaltet sind, dass der Ehrliche nicht als der Dumme dasteht.
Problemverleugnung und Moralromantik sind für Lübbe-Wolff die beiden Haupthindernisse einer sachgerechten Politik der Korruptionsbekämpfung. Kurzfristig versprechen sie zwar politischen Gewinn, weil man das eigene und das fremde moralische Selbstgefühl streichelt und sich dem Vorwurf entzieht, einer allgemeinen Misstrauenskultur das Wort zu reden. Aber auf längere Sicht unterminieren sie mit dem Wachstum korruptiver Verhältnisse die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts, das generelle Vertrauen auf die Redlichkeit der anderen. Das Gleiche gilt für einen Regelungsillusionismus, der sich mit bloßer "Papierpolitik", dem Erlass prächtig klingender Rechtsnormen, zufriedengibt, deren mangelhafte Umsetzung aber geflissentlich übersieht - eine Strategie, zu der nach Lübbe-Wolff vor allem die EU neigt.
Wie ist der Hydra der Korruption stattdessen beizukommen? Neben erzieherischen Maßnahmen, die zur allmählichen Veränderung mitgebrachter Loyalitätsverständnisse führen, hilft nach Lübbe-Wolff am ehesten die Verschärfung von Transparenzanforderungen gegenüber korruptionsanfälligen Personenkreisen und Institutionen, verbunden mit einer glaubwürdigen Sanktionierung von Verstößen. Transparenz sei ein außerordentlich wirksames und zugleich kostengünstiges Mittel der Korruptionsprävention, weil sie auf das Eigeninteresse der relevanten Akteure und das Informationsinteresse der Öffentlichkeit setze und so über weite Strecken ganz ohne bürokratischen Durchsetzungsaufwand verhaltensbeeinflussend wirke.
Im Interesse effektiver Transparenzregeln muss sich freilich das goldene Kalb der deutschen Grundrechtsreligion, das Datenschutzrecht, eine gewisse Abmagerungskur gefallen lassen. Lübbe-Wolff ist auch in diesem Punkt glasklar. "Mit so viel Datenschutz, wie wir uns bisher glaubten leisten zu können - sei es auch nur, weil man davon profitiert, dass manche Daten außerhalb Deutschlands und erst recht außerhalb Europas weniger streng geschützt sind als bei uns -, ist wirksame Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption nicht möglich."
Die Zeit läuft, und sie läuft gegen Deutschland. Nach dem Buch von Lübbe-Wolff kann sich aber niemand mehr damit herausreden, an dem unbefriedigenden Status quo lasse sich ohnehin nichts ändern. Was das Hegel'sche Prinzip, dass das Wahre sich nur im Konkreten äußert, in der Anwendung auf ein drängendes Gegenwartsproblem zu leisten vermag, hat die Hegel-Preisträgerin von 2012 in fulminanter Weise ausbuchstabiert. MICHAEL PAWLIK
Gertrude Lübbe-Wolff: "Der ehrliche Deutsche". Über Problemverleugnung, Moralismus und Regelungsillusionen in Sachen Korruption.
Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2025. 344 S., br.
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