Besprechung vom 08.01.2025
Die Münder weit geöffnet
In wildem Reigen durch die Epochen: Gunnar Schmidt schreibt Denkbilder zu einer Kulturgeschichte des Schreis
Gunnar Schmidts Lektüre der Verzweiflungsschreie Christi im Matthäusevangelium gibt gleich zu Beginn den Tenor des Buchs vor. Der Schrei erweist sich hier in seinen Augen programmatisch als Grenzfigur, als Moment der Überschreitung etablierter Grenzen und Destabilisierung von gewohnten Ordnungen. Selbst der Gottessohn beginnt in seiner Verzweiflung zu schreien: "Eli, Eli, lama asabthani", "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Im Schrei werden die Grenzen zwischen Gott, Mensch und Kreatur eingezogen, ja mehr noch: Das Subjekt verliert nicht nur seine Sprache, sondern gerät in einen Bereich, "wo es nicht mehr ich ist". Der Schrei ist eine Figur des Übergangs, die sehr unterschiedliche Formen annehmen kann.
In den fünfzehn recht kurzen Kapiteln seines Buchs stellt der Medien- und Kulturwissenschaftler Gunnar Schmidt jeweils anders besetzte und neu konfigurierte Gestalten des Schreis vor. Das Spektrum reicht dabei historisch von der Antike, ja von den Anfängen der Kultur, bis zur Gegenwart und thematisch, um nur einige wenige zu nennen, vom Schrei der Masse, im Expressionismus, im Krieg, auf der Bühne, im Film und bei Plastiken (Stichwort: Laokoon), beim Jubel und in der Hölle bis hin zum Schrei aus Angst oder Lust. Das ist ein enorm breites und dabei gleichwohl keineswegs erschöpfendes Spektrum, eher eine erste Inszenierung eines Themen- und Beispielreigens, der sich im Kopf des Lesers bereits bei der Lektüre fortsetzt und fortspinnt.
Das hat durchaus System, da Schmidt viele Aspekte ganz beiläufig verhandelt, oft nur am Rande erwähnt, ohne sie dann detaillierter weiter zu verfolgen: Verknappung und Verdichtung als Triggerstrategie. So wird etwa der "Urschrei" samt der seinerzeit überaus einflussreichen Therapieform Arthur Janovs zwar erwähnt, aber nicht weiter verfolgt. Yoko Ono, die sich zusammen mit John Lennon einer Urschreitherapie unterzog, taucht hingegen an anderer Stelle im Buch wieder auf - wenn es um die Schreie in der bildenden Kunst geht. John Lennon und sein Album "John Lennon / Plastic Ono Band", in dem er seine Therapie verhandelt, bleiben dagegen ohne Erwähnung, dürften aber - je nach Leser - gleichwohl im Resonanzraum der Assoziationen auftauchen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Geburtsschrei des Kindes, von dem im Gegensatz zu dem der gebärenden Mutter nicht die Rede ist, oder auch mit dem Horrorfilm, der als Genre pars pro toto über Hitchcocks "Psycho" verhandelt wird. Aber natürlich denkt man gleich an die vier Filme von "Scream", die den Schrei bereits im Titel tragen - und so setzt sich der Film im Kopf fort. Auch die Folter wird nicht als politisch-historischer Gegenstand behandelt, sondern über die Höllendarstellungen von Pieter Bruegel und ihre literarische Übernahme in Thomas Manns "Doktor Faustus".
Die Kapitel des Buches funktionieren so eher wie historisch-thematische Denkbilder, die auf anregende Weise jeweils eine neue Figur des Schreis exemplarisch vorstellen. Auch die Analyse versteht sich keineswegs als eine erschöpfende, sondern eher als das Herausarbeiten einer Grundfigur, der dann, wie bei Figuren üblich, Variationen folgen können.
Dieses Verfahren läuft natürlich Gefahr, zu einem Florilegium bunter Erscheinungsformen des Gegenstands zu werden, zu einer Sammlung immer neuer Spielarten. Dieser Gefahr entkommt das Buch auch nicht durchweg, das zudem mit harten Schnitten operiert. Nach der Hölle kommt der Lärm und nach diesem die Lust. Der Leser wird bei diesem wilden Reigen ordentlich - und zumeist lustvoll - durchgeschüttelt, ist aber auch froh, wenn sich das Buch wieder auf seine Grundeinsichten besinnt. Die Kapitel sind in diesem Sinne immer dann am überzeugendsten, wenn sie den Schrei als Grenzfigur theoretisch wie kulturhistorisch profilieren oder als eine besondere Form des Übergangs herausarbeiten. Dann werden mitunter die Analysen gerade dank ihrer thematischen Zuspitzung zu erhellenden kulturhistorischen wie -diagnostischen Beobachtungen.
Zu den eindringlichsten Beispielen gehört so etwa der Schrei der Masse, in dem sich das Individuum wiederum nicht länger als Ich erfährt, dafür aber der Illusion hingibt, der Schrei sei Ausdruck einer Gemeinschaft. Aber "das Schreien der Masse zeichnet sich", so notiert Schmidt, "durch Nullsinn aus". Es ist dem Schrei nicht zu eigen, Sinn zu stiften, sondern im Gegenteil, diesen bis auf seinen Nullpunkt zurückzuführen. Der Schrei ist eine Ausdrucksform, die Grenzen offenlegt, so etwa jene zwischen Individuum und Gemeinschaft. Man kann sich, so heißt es, die Seele aus dem Leib schreien. Dann aber zeigt sich mitunter Unerträgliches, das Schmidt mit Aby Warburg als "elementare Unzerstörbarkeit" bezeichnet. Der Schrei ist eben auch eine Form der Regression, aber eine, die zum Elementaren führt. Er ist nicht zuletzt die Ausdrucksgestalt einer Kulturverlassenheit, die - in welcher Form auch immer - zutiefst beunruhigend ist. BERND STIEGLER
Gunnar Schmidt: "Schreie". Versuche über die Gewalt der Stimme.
Schwabe Verlag, Basel/Berlin. 2024. 150 S., Abb., br.
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