Besprechung vom 20.05.2025
Was ein Bundespolizist an der Grenze erlebt
Ein ehemaliger Grenzschützer schildert seinen Alltag und macht Politik und Medien schwere Vorwürfe
Nach all den Jahren als Bundespolizist kam er irgendwann an seine eigene Grenze. Jan Solwyn quittierte frustriert seinen Dienst und legt nun - der Zeitpunkt könnte kaum besser passen - sein Buch mit dem vieldeutigen Titel "An der Grenze" vor. Zehn Jahre nach der sogenannten Flüchtlingskrise, just zum Regierungswechsel im Bund mit versprochener Asylwende, schildert Solwyn darin Erlebnisse, die seinen Glauben an die deutsche Politik erschüttert haben.
Es sind vor allem die Reportage-Elemente, die das Buch so lesenswert machen, Erzählungen aus eigener Erfahrung, die dem Leser eine seltene Perspektive auf das Thema Asylmigration bieten. Da wäre die Geschichte eines Algeriers, der sich als Palästinenser ausgab, dessen Lüge im Verhör mit dem Dolmetscher aufflog, der wieder nach Belgien überstellt wurde und gleich am nächsten Tag wieder einreiste, diesmal aber ein Asylbegehren äußerte und deshalb eine Anlaufbescheinigung für die Ausländerbehörde bekam.
Da wäre auch die Geschichte eines Ivorers, der 2004 als Minderjähriger unerlaubt eingereist ist und dessen Asylantrag 2005 abgelehnt worden war, der seither aber trotz Delikten wie Raub und Körperverletzungen geduldet wurde und eines Tages mal wieder von der Polizei festgenommen wurde, Solwyn niederschlug, entwischte, bevor er nach einer Verfolgungsjagd wieder festgehalten werden konnte und die Beamten als "Hitlers Bastarde" und Rassisten beschimpfte. Und der dafür Jahre später von einem Amtsgericht, in Abwesenheit, nur zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, die er womöglich nie gezahlt hat.
Und da wären, um noch eine letzte Episode zu nennen, im serbisch-bulgarischen Grenzgebiet aufgefundene Afghanen, die "Germany best!" rufen, auf ihren Smartphones Fotos zeigen von Afghanen in Deutschland, die vor einem Mercedes C-Klasse posieren oder mit einem jungen Mädchen. Es sind Männer, die ein Bild von Deutschland haben, das der Wirklichkeit nicht standhält. Und die, auch wenn sie von der Polizei aufgegriffen werden, keinen Asylantrag in Serbien stellen, sondern es irgendwie nach Deutschland schaffen werden. Mit seinem Schreibstil zieht Solwyn den Leser in seinen Bann, so manche Schilderung macht wahrlich sprachlos, und man fragt sich, wie es sein kann, dass der Weg nach Deutschland so leicht ist für Menschen, die nicht (oder nicht unmittelbar) auf der Flucht sind, denn sie durchqueren auf dem Weg hierher schließlich mehrere sichere Länder, in denen sie nicht verfolgt werden.
Solwyn, der seinen Dienst in jener Zeit verrichtete, als der Migrationsstrom nach Deutschland immer größer wurde, sieht sich nicht nur von der Politik enttäuscht, sondern auch von - er unterscheidet hier leider nicht - den Medien. "Während in Köln die Szene der afrikanischen Drogendealer und arabischen Jugendlichen, die den öffentlichen Raum einnahmen, jede Woche größer wurde, las ich ergreifende Geschichten von syrischen Ärzten und Ingenieuren . . ." Mit Skepsis blickte er im Jahr 2015 auch auf die "Refugee Welcome"-Plakate an den Bahnhöfen. "Deutschland feierte den Kontrollverlust. Niemand schien sich daran zu stören, dass es sich, im Gegensatz zur medialen Darstellung, eben nicht um Familien handelte. Niemand schien sich daran zu stören, dass diese Menschen, im Gegensatz zur medialen Darstellung, nicht gerade erst knapp dem Tode entronnen waren, sondern Tausende Kilometer ohne Gefahr für Leib und Leben durch sichere europäische Länder zurückgelegt hatten."
Solwyn trifft hier einen Punkt, noch heute sind auf Fotos zum Thema häufig Frauen mit Kindern hinter Zäunen abgebildet, obwohl die meisten Asylsuchenden junge Männer sind. Sein Urteil ist aber pauschal. Medien, die ihre Berichterstattung änderten, könnte er auch loben. Stattdessen erschien ihm schon vor Jahren der "verächtliche Ausdruck Wendehals" noch "deutlich zu milde".
Nun ist Solwyn ein ehemaliger Bundespolizist und kein Politiker, doch wer so eindrucksvoll die Schattenseiten der Asylpolitik aufzeigt, sollte auch Lösungsvorschläge liefern, die über das hinausgehen, was der Autor am Ende des Buchs vorschlägt. Denn das ist gar nicht so viel. Deutschland müsse das System der Duldungen abschaffen, fordert Solwyn. Und sonst?
Alle Maßnahmen, die bislang getroffen wurden, hätten ihr Ziel verfehlt, schreibt er. Nationale Alleingänge würden nichts bringen. Aber in der EU-Asylreform, die Schnellverfahren für manche Schutzsuchende vorsieht, sieht er auch keinen Schritt nach vorn. Was aber wären dann die Mittel der Wahl, um Kontrolle darüber zu erlangen, wer ins Land kommt und wer nicht? Diese Antworten bleibt der Autor leider schuldig. Und die Rechtslage ist nun mal kompliziert. Dennoch ist das Buch ein Muss für Politiker und Journalisten und all jene, die sich mit der Asylpolitik auseinandersetzen. Eben weil es die Probleme der vergangenen Jahre, die so manches Wahlergebnis erklären, aus einem Blickwinkel beleuchtet, der selten ist.
Solwyns Hoffnung in die Politik mag erloschen sein, aber: "Mein Vertrauen in die Demokratie ist es nicht", schreibt er. Er hätte dieses Buch auch wohl kaum geschrieben, wenn er nicht doch noch einen Funken Hoffnung hätte, dass sich etwas ändert, wenngleich der ehemalige Bundespolizist in Interviews der neuen Bundesregierung keine Fortschritte zutraut.
"Wenn dieses Werk den Anhängern des äußeren rechten Spektrums zu links und den Anhängern des äußeren linken Spektrums zu rechts erscheint, dann ist es genau dort, wo es hingehört", schreibt Solwyn. Herausgekommen ist ein Buch, das aneckt und erhellt. Es ist die kurzweilige Lektüre wert. TIM NIENDORF
Jan Solwyn: An der Grenze. Verfehlte Politik, Überforderung, Flüchtlingselend: Wie ein Bundespolizist die Realität an unseren Grenzen erlebt.
Heyne Verlag, München 2025. 256 S.
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