Besprechung vom 02.06.2025
Blonde Gauloise
Jérôme Leroy findet "Die letzte Französin"
Vor dreißig Jahren kam "La Haine" ins Kino ("Der Hass"), jener Spielfilm von Mathieu Kassovitz, der das Leben unter Migranten in einer französischen Hochhaus-Vorstadt knallhart zur Kenntlichkeit entstellt. Es war damals die Rede von den "sozialen Zeitbomben", die in der Banlieue stecken. Inzwischen sind sie vielfach explodiert. Und doch sind, um im Bilde zu bleiben, noch weitere Bomben im Bau.
Jérôme Leroy findet die Banlieue für das Setting seines Romans "Die letzte Französin" "oberhalb einer großen Hafenstadt im Westen" Frankreichs, die bekannt ist "für ihre aberwitzig hohe Arbeitslosenquote, ihre vor sich hin rottenden Werften und ihren Wiederaufbau in einem elegant stalinistischen Stil nach den Bombardierungen von 1944".
Das Hochhaus, um das es hier geht, ist jüngeren Datums und wird nur "Die 800" genannt. Wir erfahren, dass sich darin "geopolitische Wirren" zuspitzen, die in die französische Hafenstadt importiert wurden. Um konkreter zu werden: Die 800 beherbergt neben "indigenen Junkies, radikalisierten Psychopathen, Beziehern von Grundsicherung und turbantragenden Frauen" auch "angehende Attentäter, die mit dem Maschinengewehr in Konzerthallen herumballern, oder zukünftige Massenmörder, die mit einem 19-Tonner an einem Nationalfeiertag über eine Promenade am Meer rasen werden". So wird die Erzählung in der jüngsten Zeitgeschichte verankert.
Auf ihren kaum hundert Seiten kommt sie äußerst schnell zur Sache: Nach wenigen Zeilen schon fällt ein Schuss aus einer großkalibrigen Waffe, und es liegt "eine Menge Hirn auf dem nächtlichen Asphalt". Damit ist der Ton gesetzt für einen klassischen noir mit diversen quasi filmisch dargestellten Splatter-Effekten. Das erste Opfer heißt Mokrane Méguelati und wird von dem ihn erschießenden Polizisten als "Kanake" bezeichnet.
Es mangelt wahrlich nicht an drastischer Diskriminierung in dieser Geschichte, die auch deutlich mit einem gewissen Sendungsbewusstsein erzählt wird und das Beschriebene anprangert. In ihrer Fiktion regiert eine rechtsradikale Partei, der bei Leroy mehrfach beschriebene "Patriotische Block", die Hafenstadt und setzt auf Law-and-Order-Politik. Als Polizisten werden ehemalige Soldaten verpflichtet, "die man bei der Armee loswerden will". Unter diesen Polizisten zählt ein Leben wie jenes von Méguelati wenig; was sie allerdings anfangs nicht wissen, ist, dass er ein Spitzel des Inlandsgeheimdienstes war. Das macht die Sache noch spannender: Méguelati wusste nämlich von einem geplanten Anschlag, der nun mit aller Macht verhindert werden soll.
Also werden in der 800 "Türen und Schädel" eingetreten, es kommt zu Unruhen und Schießereien, die den nur scheinbar chaotischen Plot zu seinem dramatischen Ende drängen. Dabei gelingt es dem 1964 in Rouen geborenen Jérôme Leroy, der seine Krimis auch als eine Art der "linken Geschichtsschreibung" begreift, auf engstem Raum noch erstaunlich viel neues Personal aufzufahren, dem er mittels eines sich selbst ironisierenden "allwissenden Erzählers" in die Köpfe schaut.
Darunter sind junge Islamisten und alte Kombattanten verschiedener Lager, abgehalfterte Politiker auf Antidepressiva, ein sexbesessener junger Lehrer an einer Problemschule sowie eine Jugendbuchautorin, die dort zu einer Lesung geladen ist und noch halb betrunken aus Paris anreist, um pünktlich zum Finale dieses Krimis einzutreffen. Auch in der sarkastischen Darstellung dieser Alizé Lavaux ist Leroy, der selbst Jugendbücher verfasst hat, ganz auf der Höhe der Zeit: Er macht die Autorin von belanglosen "Young Adult"-Romanen mit Titeln wie "Sonne für alle" gnadenlos lächerlich und lässt sie fast genüsslich ahnungslos in ihr Verderben fahren.
Bei der titelgebenden "letzten Französin" handelt es sich aber nicht um die Jugendbuchautorin, sondern um eine zuvor schon geschickt am Rande erwähnte "kleine Gauloise", eine wegen ihrer blonden Haare als Gallierin bezeichnete verführerische Schülerin, deren Meer-Geruch einer der Islamisten verfallen ist und die der Geschichte den entscheidenden Dreh gibt. Diese satirische Kriminalgeschichte mit Houellebecq-Touch werden selbst Nichtraucher in einem Zug konsumieren. JAN WIELE
Jérôme Leroy: "Die letzte Französin". Kriminalroman.
Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2025. 104 S., br.
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