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Besprechung vom 03.11.2025
Die Marke Ludwig Erhard
Hinter den Kulissen des Wirtschaftswunders
Deutschland im Jahre 1962. Die damals recht verbreitete Zeitschrift "Quick" titelt aus Anlass des 65. Geburtstags von Ludwig Erhard: "Ein Symbol feiert Geburtstag: Der Mann, der Schnitzel wachsen ließ." Der erste Bundeswirtschaftsminister ist aus dem Gründungsmythos der jungen Bundesrepublik nicht wegzudenken. Und das aus gutem Grund: Seine Tatkraft, sein politischer Instinkt und seine ökonomische Sachkenntnis haben die westdeutsche Nachkriegszeit entscheidend geprägt - in kongenialer Zusammenarbeit und herzlicher Abneigung verbunden mit Konrad Adenauer. Doch Erhard war darüber hinaus vor allem eins: eine Marke. Er war das Gesicht der Sozialen Marktwirtschaft, er begeisterte die Massen. Die "Kieler Nachrichten" schrieben einst nach einem Auftritt über ihn: "Es war nicht der Inhalt seiner Reden, der die Pinneberger so begeisterte. Er hätte ihnen auch von chinesischer Vasenmalerei erzählen können. Man klatschte, weil Erhard da war." Doch die Marke Erhard war keine Laune der Natur, sondern das Ergebnis harter Arbeit - und reichlich finanzieller Mittel.
In ihrer Dissertation "Der Wundermann Ludwig Erhard", an der Schnittstelle von Geschichts- und Kommunikationswissenschaft, zeichnet Katharina Schmidt Aufstieg und Fall der Marke Erhard nach und bietet zahlreiche und auch altgedienten Erhard-Forschenden überraschende Einblicke. Und dies gelingt ihr in ausgewogener Weise, so dass weder Fürsprecher noch Kritikerinnen von Erhard nach der Lektüre mit Groll und Gram auf die gelesenen Zeilen schauen werden.
Der Weg zur Marke war für Ludwig Erhard ein langer. 1951, drei Jahre nach der Währungsreform, hatten nur 14 Prozent eine gute Meinung vom Wirtschaftsminister. Spätestens im Bundestagswahlkampf 1957, der mit der absoluten Mehrheit für die CDU endete, war er aber zum Sympathieträger in den breiten Massen geworden. Im Mai 1963, am Ende seiner Zeit als Minister und kurz vor Beginn seiner Kanzlerschaft, lagen seine Zustimmungswerte bei 81 Prozent. Dieser mediale Erfolg in der Bevölkerung wurde mitgetragen von zahlreichen ihm freundschaftlich verbundenen Weggefährten, Journalisten und Werbefachleuten, die kluge Ideen und Strategien beisteuerten - aber auch von Unternehmern, die viel Geld in Erhard investierten. Das Vorbild waren amerikanische PR-Kampagnen.
Eine besondere Rolle spielte dabei, wie Katharina Schmidt neben vielen anderen Quellen aufzeigt, der Verein "Die Waage". Ab 1952 personalisierte der Verein in enger Absprache mit dem Bundeswirtschaftsministerium die Soziale Marktwirtschaft mit dem Menschen Ludwig Erhard. Aus der Sozialen Marktwirtschaft wurde "Erhards Soziale Marktwirtschaft". Der "Erfinder" der neuen Wirtschaftsform war in Anzeigen allgegenwärtig - klassisch mit, aber auch ohne Zigarre, weil dies - wie die damalige Marktforschung feststellte - bei Frauen besser ankam. Er wurde zum Gegenimage von Adenauer. Hier der gestrenge Kanzler, dort Erhard als der gemütliche, bodenständige und bürgernahe Minister. Allein im Vorfeld zur Bundestagswahl 1953 gab "Die Waage" die für damalige Verhältnisse horrende Summe von 3,8 Millionen für Erhards Imagestrategie aus - finanziert vor allem von der Industrie und unterstützt durch Töpfe aus dem Ministerium.
Dennoch - und dies zeigt Schmidt mit wunderbarer Detailkenntnis - war Erhard weit mehr als eine "Sprechpuppe" von Werbestrategen. Er selbst war wesentlicher Motor und Garant seines Erfolgs. Dazu kamen loyale und fähige Mitarbeiter - Karl Hohmann, Ludger Westrick und Alfred Müller-Armack sind die bekanntesten Namen der Anfangszeit -, denen er weite Entscheidungsspielräume und Entwicklungsmöglichkeiten bot. Und Erhard war, wie Schmidt schreibt, "Propagandist in eigener Sache". Galt der Wirtschaftsminister im kleinen Kreis eher als zurückhaltend und gar menschenscheu, verwandelte er sich vor Publikum zu einem großen Kommunikator. So schreibt Schmidt: "In den Reden des Ministers mischten sich Pathos und Willensstärke mit Gelassenheit und Optimismus."
Doch nicht nur den Wirtschaftsminister beleuchtet Schmidt, sondern vor allem auch den Kanzler Erhard. Und sie zeigt spiegelbildlich zu seinem Aufstieg, dass trotz der großen Summen, die während seiner Kanzlerschaft in die Hand genommen wurden, eine immer undurchsichtigere Medienstrategie, der schwindende Rückhalt bei den Journalisten, unklare Entscheidungsstrukturen und ein mehr und mehr müder Erhard genau das ruinierten, was ihn einst zur Marke gemacht hatte: sein gutes Verhältnis zu den Medien. Schon zum Bundeswahlkampf 1965, den Erhard nochmals für sich entscheiden konnte, schrieb der Journalist Hans Ulrich Kempski, der ihn im Sonderzug begleitete, doppeldeutig: "Die Lokomotive qualmt, doch es fehlt ihr an Kraft."
Katharina Schmidt gelingt im besten Sinne des Wortes eine Fleißarbeit mit einer großen und gründlich recherchierten Botschaft: Erfolgreiche Politik, zumal Wirtschaftspolitik, muss auch die Herzen der Menschen erreichen. Ein Schelm, wer dabei an das Hier und Jetzt denkt. NILS GOLDSCHMIDT
Katharina Schmidt: Der Wundermann Ludwig Erhard. Mythos, Selbstdarstellung und Öffentlichkeitsarbeit, Herbert von Halem Verlag, Köln 2024, 624 Seiten
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