Ach war das schön! Das erste Mal seit vielen Jahren habe ich einen Roman in einem Rutsch weggelesen, war abgetaucht, nicht ansprechbar. Ich habe mich so unglaublich zu Hause gefühlt in diesem Buch. Die B 96 durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern - wie oft bin ich die selbst gefahren von Leipzig nach Greifswald und/oder in Gegenrichtung. Die weitläufigen Strände und die Steilküsten der wunderschönen Insel Rügen, der fassungslose Blick auf die Ruine und später den sanierten Koloss von Prora - das habe ich alles mit eigenen Augen gesehen. Und wie lebendig kommt die Erinnerung an durchtanzte Nächte in viel zu lauten Lokalitäten zurück, in denen auch ich es, ähnlich wie Hedwig, leider nie so gut aushalten konnte. Für mich ist dieser Roman wahrlich ein großes Geschenk.
Wie eine Kurzgeschichte beginnt Mareike Klee ihren Roman Erzähl ich morgen. Ich hatte in der Gegend zu tun, sagt er unbekümmert und schiebt seine Hände in die Hosentaschen. Mit diesem Satz steht der Endzwanziger Avi im Büro der Professorin Hedwig, die er ein paar Tage zuvor bei einer Veranstaltung kennen gelernt hatte und unbedingt wiedersehen muss. Hedwig ist eine Generation älter als Avi und reagiert zunächst abweisend, doch der charmante Avi überzeugt sie, mit ihm auszugehen. Dem Abend folgt ein gemeinsames Wochenende auf Rügen. In Hedwig kämpfen Verstand und Gefühl, und entgegen ihres verkopften Charakters kann sie dem charismatischen jungen Mann nicht widerstehen. Was er von ihr will, ist klar, er ist von Beginn an sehr deutlich in seinen Avancen. Aber was will sie? Offensichtlich scheint ihr etwas in ihrem Leben zu fehlen, nur hat sie das selbst bis grade nicht gewusst. Sehr behutsam schimmert an einigen Stellen durch, dass sie sich dem jungen Mann aber auch intellektuell überlegen fühlt, und Avi, schockverliebt, nie um Worte verlegen, befürchtet auch, nicht in ihrer Liga zu spielen.
Nach und nach erfahren wir als Leser*innen wie nebenbei Details aus beider Leben und wissen schließlich mehr Einzelheiten über sie als Avi und Hedwig voneinander.
Perspektivisch folgt die Autorin Hedwigs Gedankengang. Der Text ist sehr dialogreich, und die Gespräche zwischen Avi und Hedwig, die er Hetty nennt, die mitunter auch Schlagabtausche sind, sind sehr unterhaltsam, manchmal lakonisch und auf jeden Fall authentisch und absolut genial. Nicht allzu häufig habe ich so realistische, überzeugende Dialoge gelesen. Vor allem Avi wirkt durch diese Dialoge sofort sehr vertraut, beinahe wie jemand, den man im richtigen Leben kennt und zu gerne kennen möchte - um einen solchen Gesprächspartner ist Hedwig wirklich zu beneiden. Hedwig hat es mir - und auch Avi - vergleichsweise etwas schwieriger gemacht, was ich aber gleichermaßen authentisch empfinde. Hedwigs Handeln und Haltung - ich verrate sie hier nicht, aber - puh! Man kann gar nicht anders, als emotional mit den beiden mitzugehen. Ich jedenfalls habe mitgefühlt und mitgelitten. Am Ende musste ich ein bisschen schlucken, es ist grandios, wie die Autorin das Dilemma erfahrbar macht und mich wehmütig mit dem Ausgang stehen lässt. Das ist show, dont tell in Vollendung. In losem Wechsel gibt es kurze Kapitel mit Social Media Chats, die Avi mit seinem Bruder führt, in sehr kurzen Sätzen, fragmentarisch fast. So können nur zwei kommunizieren, die sich ohne Worte verstehen. Diese Chats sind wichtig, weil auf sie uns einen eigenen, authentischen Blick auf Avi ermöglichen, der uns mehr verrät, als Hedwig weiß.
Eingebettet ist das Ganze in zeitgemäßen gesellschaftlichen Kontext. Wie lebt man heute als Jude der dritten oder vierten Generation nach dem Holocaust in Deutschland? Ausländerfeindlichkeit, historischer Größenwahn, Freizeitverhalten junger Erwachsener, Musik, die unterschiedliche Nutzung von Social Media - lauter Themen, die in Avis und Hedwigs Gesprächen das Gerüst für dieses Buch ausmachen.
Ihr ahnt schon, was nun folgt: lest diesen wunderbaren Roman, habt ein Date mit Hedwig und Avi, fahrt mit ihnen nach Rügen, fühlt, was sie fühlen.
Mareike Klee, *1980, ist Alt-Historikerin mit Schwerpunkt griechisch-römischer Antike. Erzähl ich morgen ist ihr erster Roman. Ich hoffe, dass weitere folgen werden.