Für Augustinus ist das Gedächtnis der "Magen des Geistes" (S. 69). Martin Korte aber geht schon im Titel seines Buches "Wir sind Gedächtnis - Wie unsere Erinnerungen bestimmen, wer wir sind" viel, viel weiter und befördert das Gehirn, das Gedächtnis zum Konstrukteur der menschlichen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zum Kern des Menschseins überhaupt.
Keineswegs aber hat das Gedächtnis die Natur eines Festspeichers, so zeigt der bekannte Hirnforscher, es legt seine Inhalte vielmehr an ganz verschiedenen Orten ab - und diese Inhalte selbst haben ebenfalls eine erstaunliche Bandbreite. Da geht es um die Autobiographie, bei der sozusagen das Alte vom hirnorganisch Jungen kommt. Es geht aber auch um Gewohnheiten, es geht um Süchte, die aus Neuro-Sicht wiederum so etwas wie "betonierte" Gewohnheiten, will sagen: schwer "reformierbar" sind. Eine Frage weniger der Hardware als der Software ist, wie das Rekonsolidieren von Erinnerungen läuft, das sich eher an den Befehl "Speichern" als an "Speichern unter" anlehnt - die vielen und beim Thema nahezu unvermeidlichen Computermetaphern möge man mir nachsehen. Vom Sichern per se ist der Weg wiederum nicht weit zum Schlafen als Reinigung und Reset, zum Nacheinander von Wissen und Schaffen, zum Lernen, Vergessen und zum - oft krankhaften - Verlieren. Damit nicht genug: Gerade weil das Gegenteil, nämlich Behalten, auch heute oftmals noch weit über bloßes Nachschlagen geht, ist der "Technikteil" in dem Werk goldrichtig "verortet".
Von Kortes Buch gilt deshalb - in einem irdischen Sinne - für jedermann das, was einer der wohl ersten großen Gedächtnisforscher, Augustinus, mit einem weiteren - berühmten - Wort aus den "Bekenntnisse(n)", über seine Bekehrung berichtet: "Nimm und lies!"