
Spätestens seit der Coronapandemie sind Verschwörungstheorien ein Signum unserer Zeit. Je komplexer unsere Welt wird, desto mehr Menschen scheinen für ihre erklärenden Sinnangebote empfänglich. Elon Musk, der reichste Mensch der Welt, hat ein ganzes soziales Netzwerk in eine Schleuder für konspirationistische Erzählungen verwandelt. Donald Trump, der mächtigste Mensch der Welt, amtiert als conspiracy theorist in chief im Weißen Haus.
Michael Butter, Bestsellerautor und einer der renommiertesten Experten für das Thema, präsentiert die Ergebnisse seiner jahrelangen Forschung. So groß die Gefahr auch ist: Eine freie und demokratische Gesellschaft darf sich nicht von der Angst vor Verschwörungstheorien beherrschen lassen und in Alarmismus verfallen. Wie Populismus sind auch sie eine Reaktion auf eine empfundene oder befürchtete Exklusion. Wer sie bekämpfen will, sollte andere nicht einfach als Schwurbler oder Leichtgläubige hinstellen. Vielmehr gilt es, die gesellschaftlichen Ursachen zu bekämpfen. Inklusion und Teilhabe, so Butter, stellen den wirksamsten Schutz gegen Hetze und Unwahrheiten dar.
Besprechung vom 21.10.2025
Keine Angst vor Verschwörungstheorien
Bedrohen Fake News und Bürger, die nicht an die Kugelgestalt der Erde glauben, wirklich die Demokratie? Zwei Neuerscheinungen, die sich dieser Fragen widmen, kommen zu Antworten, die gegensätzlicher nicht sein könnten.
Fake News, alternative Fakten, Lügen, Verschwörungstheorien - wir leben in wahrheitsfernen Zeiten, so scheint es jedenfalls. Welche Sprengkraft darin für die Demokratie liegen kann, zeigt ein Blick in die USA. Zwei Neuerscheinungen fragen nach den gesellschaftlichen Folgen von Lügen und Verschwörungstheorien hierzulande - und finden geradezu gegensätzliche Antworten.
Ob es so etwas wie Wahrheit überhaupt gibt und welche Instanzen bestimmen, was als solche gilt, kann man kontrovers diskutieren. Das Strafrecht etwa muss annehmen, dass es eine Tatsachen-Wahrheit gibt, und hat die Aufgabe, sie zu rekonstruieren. Die Juristin Elisa Hoven widmet sich in ihrem Buch den gesellschaftlichen Folgen von Unwahrheiten. Sie fragt, ob und wie Lügen in verschiedenen Kommunikationsräumen zirkulieren, wie etwa in den sozialen Netzwerken, der Wissenschaft, der Politik und in den Medien. Dass es nicht allzu gut bestellt ist um die Tatsachentreue, überrascht kaum: Allenthalben wird verzerrt, geframt, politisch selektiert oder schlicht gelogen. Fake News werden - auch mit Unterstützung von Social Bots - verbreitet, Wahlversprechen gebrochen, Zahlen geschönt.
Man erfährt viel in diesem Buch, wird aber nicht sonderlich überrascht. Mitunter aufschlussreich sind Hovens strafrechtliche Einschätzungen. So lernt man etwa, dass es im deutschen Recht keinen Straftatbestand gibt, der darauf zugeschnitten wäre, Fake News zu verbieten. Man kann sich aber der "üblen Nachrede" strafbar machen, wenn man diskreditierende Tatsachen über Dritte verbreitet, deren Wahrheit letztlich nicht beweisbar ist - auch wenn man selbst von ihr überzeugt war. In Zeiten massenhaften Teilens schwer überprüfbarer Inhalte auf Social Media wird das eher häufig der Fall sein. Hoven plädiert daher dafür, die Verantwortlichkeit von Nutzern juristisch neu zu verhandeln.
Medien sowie Regierung und Opposition nimmt Hoven dagegen nicht rechtlich, sondern politisch in die Pflicht. Vertrauen in beide sei für das Funktionieren demokratischer Institutionen essenziell. Die Verbreitung von Lügen, das Verzerren oder Verschweigen von Sachverhalten untergrabe es. Unausgewogene Berichterstattung etwa führe zur Abwanderung der Leserschaft in die sozialen Netzwerke, wo Filterblasen das Ringen um die "besten Argumente und Antworten" verunmöglichten. Das Kleinreden von problematischen Sachverhalten in der Politik, beispielsweise bei den Folgen von Zuwanderung, treibe die Wähler populistischen Parteien in die Arme. Doch Lügen und Co. sind nicht allein eine Gefahr für die Demokratie, weil sie die Kriterien rationalen Diskutierens verletzen, sondern weil sie auf ein grundsätzlicheres Problem verweisen: Hovens Perspektive greift dort zu kurz, wo nicht fehlgeleitete Argumente, sondern soziologisch erklärbare Ressentiments das Urteil bestimmen.
Wird heute mehr gelogen als früher? Nein, meint Hoven, aber durch moderne Technik "anders und vor allem effizienter": Soziale Medien verbreiten Meldungen in kürzester Zeit und mit enormer Reichweite, bearbeitete Bilder und Deepfakes sind kaum mehr als solche zu erkennen, Betrug wird über das Internet leichter denn je. Die Vielzahl plausibler, aber eben doch unwahrer Deutungsangebote erschwere gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und gefährde so die Demokratie.
Zu manch anderem Schluss kommt dagegen der Amerikanist Michael Butter, der sich in seinem Buch fragt, "was Verschwörungstheorien anrichten". Bei jenen handelt es sich zwar in den allermeisten Fällen um Unwahrheiten, allerdings nicht zwingend um Desinformation, also Lügen. Um zu lügen, muss nämlich jemand bewusst etwas Falsches verbreiten, Verschwörungstheoretiker glauben jedoch für gewöhnlich an eine Konspiration, die sie mitunter als tatsächliche Bedrohung wahrnehmen. Kennzeichnend für Verschwörungstheorien, so Butter, ist die Annahme, dass nichts so ist, wie es scheint: Hinter allen Ereignissen steht ein Plan, Zufall gibt es nicht, alles ist miteinander verbunden und Teil des Komplotts mächtiger Akteure mit sinistren Absichten.
Butter wartet mit durchweg überraschenden Thesen auf, was das Buch zu einer lohnenden und anregenden Lektüre macht. So beruhe der aktuelle Trend, den Begriff Verschwörungstheorie zu vermeiden und durch die Rede von Verschwörungsnarrativen, -erzählungen und -mythen zu ersetzen, auf einem Missverständnis. Der Ausdruck "Theorie" werte das Phänomen keineswegs auf, wie Kritiker des Begriffs argumentieren. Zum Beispiel disqualifiziere das Argument, dass seriöse Theorien falsifizierbar seien, auch einen Großteil des sozialwissenschaftlichen Theoriekanons. Mitunter verliert sich aber Butter in begrifflicher Feinarbeit, die Behauptungen wie diese und andere begründen soll und eher ein wissenschaftliches Publikum interessieren dürfte. Seine grundsätzliche These überzeugt dennoch: Verschwörungstheorien werden vor allem dort gefährlich, wo sie sich mit konkreteren, etwa rassistischen Überzeugungen verbinden, wie es etwa in der Verschwörungstheorie vom "Großen Austausch" der Fall ist. Eine Gefahr für die Demokratie seien Verschwörungstheorien allerdings nicht zwangsläufig, auch demokratische Oppositionsbewegungen bedienten sich ihrer. Ihr heutiger schlechter Ruf rühre auch daher, dass sie gegenwärtig vor allem von politischen Akteuren verbreitet würden, die kaum als demokratisch gelten können.
Generell - und auch das ist auf den ersten Blick überraschend - hält Butter die Gefahr, die von Verschwörungstheoretikern in Deutschland ausgeht, für geringer, als der oft aufgeregte mediale Diskurs es vermuten lasse. Der Glaube an sie sei weniger verbreitet als gemeinhin angenommen, und das Gewaltpotential unter ihren Anhängern variiere.
Wer glaube, dass die Erde eigentlich flach sei, werde kaum gewalttätig. Gefährlich würden Verschwörungstheorien vor allem dann, wenn sie konkrete Feindbilder benennen. Auch die Wirkung, die im Internet verbreitete Falschinformationen und Verschwörungstheorien entfalten können, werde überschätzt, meint Butter. Sie erreichten vor allem diejenigen, die bereits entsprechende Überzeugungen teilen. Wo die Nachricht auf fruchtbaren Boden fällt, könne sie aber Radikalisierung befördern.
Weshalb aber wenden sich Menschen überhaupt Verschwörungstheorien zu? Der Glaube an sie sei nicht nur eine fixe Idee, sondern Ausdruck tiefer liegender Probleme, wie der - berechtigten oder unberechtigten - Angst vor Kontrollverlust. Nach innen wirke er vergemeinschaftend und identitätsstiftend.
Butters Unaufgeregtheit ist erfrischend. Mehr auf Wirkung bedacht dagegen scheint seine These, dass der deutsche Diskurs über Verschwörungstheorien deren Gefahr für die Demokratie nicht nur alarmistisch überhöhe, sondern ihre Argumentation spiegeln könne: Verschwörungstheoretiker und ihre Kritiker gingen beide davon aus, dass eine manipulative Gruppe "aus strategischen Gründen Falschinformationen in die Welt setzt, die dann von denjenigen, die ihnen vornehmlich online ausgesetzt werden, größtenteils geglaubt werden". Beide beanspruchten, die Täuschung zu durchschauen. Und jene, die ihren Lebensunterhalt - ob als Verschwörungstheoretiker-Prominenz oder als Mitarbeiter in zivilgesellschaftlichen Projekten - damit verdienten, müssten beständig warnen und dramatisieren, um ihre Reichweite und Finanzierung zu sichern. Die (unnötigerweise) "Alarmierten" sind sie nämlich beide, die Verschwörungsgläubigen und die, die sie zur ernstlichen Gefahr erklären. Mit Blick auf die zentrale Rolle, die Verschwörungstheorien in der aktuellen US-Politik spielen, kann man nur hoffen, dass Butter mit dieser Einschätzung recht behält. HANNAH SCHMIDT-OTT
Elisa Hoven: "Das Ende der Wahrheit". Wie Lügen, Fake News und Framing unsere Gesellschaft bedrohen - und was wir dagegen tun müssen.
Dumont Verlag, Köln 2025. 256 S., geb., 24,- Euro.
Michael Butter: "Die Alarmierten". Was Verschwörungstheorien anrichten.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 247 S., br.
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