
Besprechung vom 11.10.2025
"Ich sehe eine Ähnlichkeit mit der Erfahrung der Juden"
Thomas Chatterton Williams weist unermüdlich auf die blinden Flecken der antirassistischen Bewegungen hin. In seinen Büchern plädiert er für eine Post-Race-Theory, die Gleichberechtigung statt Sonderbehandlung anstrebt.
Von Joseph Hanimann
Von Joseph Hanimann
Mit seinem Buch "Selbstporträt in Schwarz und Weiß" wurde der 1981 von einem schwarzen Vater und einer weißen Mutter in New Jersey geborene Journalist und Schriftsteller Thomas Chatterton Williams vor fünf Jahren bekannt. "Unlearning race" hieß der Untertitel jenes Buchs. Der heute in Paris lebende und mit einer Französin verheiratete Autor beschrieb darin seine Gefühle und Überlegungen bei der Geburt seiner ersten Tochter, die ihn mit ihrer hellen Haut, ihren blauen Augen und glatten Haaren im ersten Moment aus der Fassung brachte. Er plädiert seither für ein Hinwegsehen über "Rassenunterschiede". Sein neues Buch heißt auf Deutsch "Toxische Gerechtigkeit" und geht mit dem zeitgenössischen Antirassismus hart ins Gericht. Lieber als auf Polemik und Provokation setzt er aber auf sorgfältige Erklärung.
Nach der Wahl Obamas 2008 erwarteten Sie eine Wende in Amerika hin zur "Post-Rassen-Gesellschaft". Zwölf Jahre später sahen Sie aber eine ganz andere Wende kommen. Was ist passiert?
Obama brachte die Aussicht auf ein Amerika, das den Fluch seiner inneren Spaltung in Schwarz und Weiß überwindet. Diese Hoffnung gab es ja nicht nur in Amerika. Bei seinem Deutschland-Besuch sprach Obama in Berlin vor zweihunderttausend Leuten. Dann zeigte sich aber, dass ein Teil der Amerikaner, wie etwa die Anhänger der Tea-Party-Bewegung, von einer multiethnischen Staatsgemeinschaft nichts wissen wollte. Das war auch die Zeit, wo auf den Smartphones eine neue Öffentlichkeit entstand, mit Bildern von Polizisten, die brutal gegen Schwarze vorgingen. In den Universitäten, Kulturinstitutionen und manchen Medien breitete sich deshalb die Überzeugung aus, dass bloße Proteste und Aufrufe zu mehr Gerechtigkeit wirkungslos seien. Und dann kam die Pandemie.
Das war 2020, im "Summer of Our Discontent", wie der Titel Ihres neuen Buchs lautet.
In jenem Sommer kam alles zusammen. Die Leute saßen zu Hause vor ihren Bildschirmen, ängstigten oder ärgerten sich über die Inkompetenz der Trump-Regierung und bekamen im Mai jenes furchtbare Video von George Floyds Tod zu sehen. Es war ein Konzentrat all dessen, was in der amerikanischen Gesellschaft falsch lief. Viele sagten sich da, dass wir nicht weniger, sondern mehr Rassendebatte bräuchten.
Sind Sie dadurch zu einem "race pessimist" geworden, der an einem "Verlernen der Rassenunterscheidung" zu zweifeln beginnt?
Nein, ich will Optimist bleiben. Ich glaube, dass die multiethnischen Gesellschaften in Amerika, Frankreich, Großbritannien oder auch Deutschland sich auf das hinbewegen, was wir in der frühen Obama-Ära anstrebten. Populistisch-rassistische Ausgrenzung hat keine Zukunft. Allerdings glaube ich mittlerweile, dass "unlearning race" allein nicht genügt. Populisten wie Trump haben zu großen Zulauf, als dass solche Postulate ausreichen würden. Wir brauchen positive Gesellschaftsvisionen, mit denen die Leute etwas anfangen können.
So zum Beispiel, wie Sie es in Ihrem "Selbstporträt in Schwarz und Weiß" beschrieben? Dass wir alle Mischlinge sind? Ist das nicht eine umgekehrte Art jenes "woke", das Sie oft kritisieren?
Kommt drauf an, was man darunter versteht. Ich glaube, das Wort "woke" hilft nicht weiter, denn es wird nur noch als Schimpfwort verstanden. Das Problem der "Wokeness"-Bewegung ist, dass sie die Sache teilweise richtig sieht. Sie richtet sich gegen Machtdiskrepanz und Ungerechtigkeit. Natürlich gibt es das. Aber der Kampf dagegen führt oft dazu, dass man sich in allzu simplen Identitätsgruppen einigelt. Mit dem Anspruch, die gesellschaftlichen Missstände schärfer zu sehen, sieht man nur noch Frontlinien und Selbstbestätigung. Was ich hingegen bei der Geburt meiner Tochter erfuhr, war zunächst Verunsicherung. Da lag vor mir jemand, der meine Tochter war, aber ohne jede sichtbare Ähnlichkeit mit mir. Ich musste meine eigene Identität als Vater neu erfinden.
Sie sind sehr kritisch gegen Protestbewegungen wie "Black Lives Matter" und finden, sie säßen umgekehrt derselben sektiererischen "Rassenpolarisierung" auf wie ihre Feinde. Können Sie an "Black Lives Matter" gar nichts Gutes sehen?
Es war richtig, auf das Problem der Polizeigewalt in Amerika aufmerksam zu machen. Falsch war aber, diese Gewalt zu "rassisieren", auch wenn proportional mehr Schwarze unter ihr leiden. Kaum war George Floyd tot, wurde aus ihm in der Smartphone-Öffentlichkeit eine Ikone weißer Übermacht und Gewalt gegen Schwarze gemacht. Dadurch wurde "Black Lives Matter" kontraproduktiv, weil es im Unterschied zu Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung statt Gleichstellung Sonderbehandlung verlangte.
Seit über zehn Jahren leben Sie in Paris. Frankreich und die USA verstehen Sie als zwei unterschiedliche Modelle einer universalen Nation. Herkunftsblinde "citoyenneté" einerseits, gruppenbetonte Staatsbürgerschaft andererseits. Sollten wir eine Synthese anstreben?
In meinem Buch spreche ich von Frankreich als einer interessanten Alternative zur multiethnischen Gesellschaft in Amerika, denn es betont die Gleichstellung und schiebt alle Glaubens- und Herkunftsunterschiede in den Privatbereich ab. Die "Rassenfrage" kommt in der Verfassung gar nicht vor. Das gefällt mir. Aber in der Realität wird die Gleichstellung im Namen der "Laizität" manchmal zur Gleichmacherei. Als vor ein paar Jahren die Polizei an einem Strand in Nizza eine muslimische Frau aufforderte, ihren Burkini abzulegen, war ich schockiert. Umgekehrt werden in Amerika immer gleich die Unterschiede der Communitys betont. Von Synthese würde ich aber nicht sprechen. Als jemand, der zwischen den beiden Ländern lebt, würde ich eher sagen, dass jedes für das andere ein Korrektiv sein könnte, um die jeweils eigenen Exzesse deutlicher zu erkennen.
Manche werfen Ihnen vor, dass Sie für die Exzesse in Amerika fast mehr die Linken als die Rechten verantwortlich machen.
Natürlich halte ich Trump für viel gefährlicher als die Linken. Man muss aber verstehen, dass die linken Aktivisten für mehr Gerechtigkeit durch implizite Verhaltensnormen, "Unworte" und Tabus eine Situation geschaffen haben, die einen Teil der Bevölkerung ins andere Extrem trieb. Diese verlangte nach Abstrafung und suchte nach dem starken Mann. Das führte dazu, dass Trump 2024 mit mehr Unterstützung von Schwarzen und Latinos an die Macht zurückkehrte, als jeder andere republikanische Kandidat seit den Siebzigerjahren sie hatte. Er verstand es, über Race-Themen hinweg auch in dieser Bevölkerung eine Schicht anzusprechen, die sich von den "woke"-Debatten der gesellschaftlich höheren Sphären abgehängt fühlte.
Die Frage der "Rassendiskriminierung" möchten Sie gern hinter jene der sozialen Diskriminierung zurückstellen. George Floyd war erstens ein Arbeitsloser und zweitens ein Schwarzer, schreiben Sie. Forscher wie der Franzose Pap Ndiaye wenden dagegen ein: Vergessen wir nicht, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt!
Ja, ich weiß: "race is classed, class is raced". Klar stehen hinter der sozialen Situation von George Floyd ein paar Jahrhunderte rassistische Unterdrückung. Ich selbst stamme von Sklaven ab. Mein Vater ist 1937 in Texas geboren, und von ihm werde ich nie ein Haus erben. Die Geschichte ist aber in Bewegung. Unter den 44 Millionen Schwarzen in Amerika gibt es sehr viele, die sozial besser dastehen als sehr viele Weiße. Und dann gibt es auch alle anderen, Asiaten, Latinos. Das binäre System Schwarz/Weiß ist zu simpel geworden.
Gibt es für Sie so etwas wie systeminhärenten Rassismus in den westlichen Demokratien?
In Frankreich wird das verneint, auch von Macron. Er betont, dass Frankreich eine andere Tradition von multiethnischer Gesellschaft habe als Amerika. Ich denke, er hat recht. Der Fehler war, dass 2020 der amerikanische Diskurs einfach auf Europa übertragen wurde. In Amerika gab es internen Sklavenhandel, bei den europäischen Kolonialmächten war er extern organisiert. Wohl haben es Wohnungs- und Arbeitssuchende mit arabischen Namen in Frankreich schwerer. Und es gibt auch weiterhin rassistische Polizisten. Ich frage aber: Inwiefern ist das systeminhärent, wo doch Gesetze und Gerichte dagegen stehen? Die westlichen Demokratien sind nicht perfekt. Ich kenne jedoch keine anderen Orte auf der Welt, wo die Chancen für eine multiethnische Gesellschaft besser stünden.
Wie Coleman Hughes, Glenn Loury, John McWhorter gelten Sie als Vertreter einer schwarzen Post-Race-Theory. In Ihrem vorletzten Buch beschrieben Sie eine Szene, wie Sie mit Ihrem Vater bei Ihrer Hochzeit durch einen Park in der Normandie spazieren und er Ihnen mit Blick auf diese ihm ganz fremde Welt sagt: "Mein Sohn, verlier dich nicht." Kommen Sie sich manchmal als "Race Transfuge" vor in dem Sinne, wie die Schriftstellerin Annie Ernaux sich als "Class Transfuge" bezeichnete?
Schwierige Frage. Entscheidend ist für mich einfach, dass wir den Rassismus nicht überwinden können, solange wir das "Rassenbewusstsein" und das damit einhergehende Bewusstsein von vergangenem Leid immer in den Vordergrund stellen. Unter diesem Gesichtspunkt sehe ich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Erfahrung der Juden. Wenn man als Mitglied einer leidgeprüften Gemeinschaft stets auf diese Vergangenheit pocht oder festgemacht wird, kommt man nicht weiter. Was mein Vater mir in der Normandie vielleicht einfach sagen wollte, war: Vergiss nicht, woher du kommst. Und damit meinte er wohl auch unser Amerika.
Thomas Chatterton Williams: "Toxische Gerechtigkeit". Die neue Polarisierung der Debatten und das Scheitern eines großen Traums.
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Verlag, München 2025. 288 S., br.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Toxische Gerechtigkeit" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.