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Besprechung vom 25.10.2025
Agile Experten
Thomas Etzemüller ortet die ambivalente Moderne im technokratischen Typus
Ordnung, beklagt der Historiker Thomas Etzemüller, werde "zu sehr vom Terror gedacht". In der Geschichtswissenschaft herrsche ein zu reduziertes Bild der europäischen Moderne vor, vom "Zeitalter der Extreme" (Eric J. Hobsbawm) bis zur "heroischen Moderne" (Heinz Dieter Kittsteiner) der Dezisionisten und Faschisten. Kaum berücksichtigt werde dabei, dass zahlreiche europäische Demokratien - die Niederlande, die Schweiz, Skandinavien oder Belgien - nicht von innen zersetzt wurden, sondern in der Zwischenkriegszeit stabil blieben.
In allen westlichen Ländern sei für viele Zeitgenossen mit der Moderne "ein Gefühl der Ent-Sicherung, des Bodenlosen, der Volatilität" einhergegangen. Spätestens mit der Weltwirtschaftskrise 1929 sei der Laisser-Faire-Liberalismus in Verruf geraten. Kaum jemand glaubte noch, dass sich ein Gleichgewicht von selbst herstellen würde. Somit dominierten Etzemüller zufolge zwei Wege, um Ordnung zu schaffen, welche die titelgebenden Werkzeuge "Handgranate oder Zeichenstift" repräsentieren sollen: Den einen Weg beschritten autoritäre Regime, die Ordnung gewaltsam zu erzwingen versuchten. Der andere Weg bestand darin, Menschen durch Anreize, durch kaum merkliche Konditionierung zum gewünschten Verhalten anzuregen - Social Engineering, eine "Frühform des Nudgings".
Der Sozialingenieur war Technokrat: "kühl kalkulierend, geschmeidig und offen, nicht der kalte, verpanzerte, stets abwehrbereite Mensch". Etzemüller betont, dass die Zwischenkriegszeit nicht nur von "Verhaltenslehren der Kälte" geprägt war, wie Helmuth Lethen sie beschrieb und etwa am Beispiel des Schriftstellers Ernst Jünger und dessen Konzept der "Stahlgestalt" illustrierte. Der Weltkriegssoldat Jünger hatte gehofft, dass der Krieg einen "Neuen Menschen" geschaffen habe, der Ordnung in die Gesellschaft bringen würde.
Das Gefühl, dass die Gesellschaft wie eine Maschine steuerbar gemacht werden könne, habe nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs beflügelnd gewirkt, so Etzemüller, nicht nur für die Konservative Revolution, auch für Vertreter des "New Deal". Selbst die Rede vom "Neuen Menschen" war nicht auf präfaschistische Kreise beschränkt. Social Engineering sei gleichermaßen ein Versuch, "gegen die vermeintlich zersetzenden Kräfte der industriellen Moderne mit künstlichen Mitteln eine verlorene natürliche Ordnung wieder zu erschaffen". Doch manche Menschen ließen sich zum Leidwesen der skandinavischen Sozialingenieure nicht umerziehen. Daher plädierte etwa Alva Myrdal dafür, Zwangssterilisierungen an jenem "Bodensatz" nicht reformierbarer und "biologisch unerwünschter" Menschen vorzunehmen. Eben jene Frau, die sich auch für Sozialstaat und Gleichberechtigung einsetzte.
An Fällen wie diesem illustriert Etzemüller seine zentrale These: "Die Moderne konnte ambivalent werden, weil es Experten gab, die überall funktionierten", im sozialdemokratischen Skandinavien wie im NS-Staat. Dass die "Ambivalenz der Moderne" durch die "moralisch blinde Anwendung" von "systemischer Problemlösung" charakterisiert war, mag keine neue These sein: Auch bei Zygmunt Bauman, auf den sich Etzemüller explizit bezieht, ist sie bereits angelegt. Hier findet sich die Metapher vom Gärtner, der "wertvolle, zum Leben und Gedeihen auserwählte Elemente von anderen, die schädlich und krankhaft sind und daher ausgerottet werden müssen", trennt. Doch Bauman habe diejenigen Pflanzen, die gehegt werden sollten, nur beiläufig erwähnt: "Baumans Gärtner konzentrierte sich offenbar auf das Jäten", auf das Auslöschen von Vieldeutigkeit - der "Ambivalenz der Experten" werde das nicht gerecht.
Wenn Etzemüller "Handgranate oder Zeichenstift" zum "zentralen Gegensatz" der Moderne erklärt, wirkt es stellenweise, als reproduziere er jene Dichotomien, die er ablehnt. Obwohl ihm bewusst ist, dass es zahlreiche weitere Formen des Zugriffs auf die ambivalente Realität gegeben hat. Dieser Eindruck entsteht, da der Autor primär daran interessiert ist, ein Gegengewicht zu düsteren Bildern der Moderne zu schaffen.
Denn obgleich manche Sozialingenieure an der Vernichtung von Leben mitwirkten, so trugen zahlreiche dieser "geschmeidigen" Subjekte mit ihren Strategien der Anpassung dazu bei, die Resilienz ihrer Gesellschaften gegen Krisen zu erhöhen. Auch ihnen ist es zu verdanken, dass einige europäische Demokratien die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts überdauerten. JAKOB BALLHAUSEN
Thomas Etzemüller: "Handgranate oder Zeichenstift". Zur Ambivalenz der Moderne.
Hamburger Edition, Hamburg 2025. 144 S., br.
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