Besprechung vom 24.03.2025
Lieber irre als gar nicht
In "Death in Brachstedt" schickt Tobias Wagner seinen Helden in eine filmreife Reifeprüfung
Was Leo über seine Mutter weiß, das weiß er von seinem Vater. Die Mutter starb, als der Junge klein war, und der Vater hat nie viel über sie gesprochen - erst Jahre nach ihrem Tod, als Vater und Sohn einmal in einem Krankenhausaufzug stecken blieben, das Kind mit höllischen Ohrenschmerzen, kam der Moment, in dem der Vater Leos Fragen nicht mehr ausweichen konnte. Wie war sie?
Außer dass sie Architektin war und sich (vergeblich) mehrere Kinder gewünscht hatte, ist dem Vater vor allem in Erinnerung geblieben, was sie ihm zugeraunt hatte, kurz bevor sie starb: "Wolfgang, flüsterte sie, ich erkenne das erst jetzt, aber ich bin sicher, es wäre gut, Folgendes im Leben zeitig zu begreifen. Von einem Menschen bleibt nur wenig. Keine Gedanken. Keine Gefühle. Die anderen können dir nicht in den Kopf gucken. Einzig deine Taten können erinnert werden. ,Mach dir schlaue Gedanken, aber du musst sie sichtbar machen', sagte sie." So spricht der Vater und durch ihn die Mutter letztlich zum Sohn. Der vernimmt die Botschaft zwar erst Jahre nach dem Gespräch im Aufzug, aber rechtzeitig genug, um an einem Wendepunkt seines jungen Lebens zu wissen, in welche Richtung es für ihn gehen muss: ins Offene nämlich - dahin, wo die Dinge unwägbar werden.
Leo ist eigentlich ein klassischer Teenager: unsicher, unglücklich verliebt und umgeben von Gleichaltrigen, mit denen er wenig anfangen kann. Sein einziger Freund ist Henri, ein Gegenentwurf zu ihm selbst, leidenschaftlich, energiegeladen und egoistisch in dem Sinn, dass er sich um die Meinung der anderen wenig schert. Das Einzige, was er möchte, ist, einen Film zu drehen und Regisseur zu werden. "Er war es gewohnt, sich zu nehmen, was er wollte", schreibt der Ich-Erzähler Leo über seinen Freund. "Ich war es gewohnt, nicht zu wissen, was ich wollte." Das ist nicht ungewöhnlich für einen Fünfzehnjährigen, und Leo weiß das. Aber er spürt auch, dass er sich diesen Luxus nicht mehr erlauben kann, denn das Leben, das der Autor Tobias Wagner ihm in "Death in Brachstedt" zugedacht hat, meint es schon auf den ersten Seiten ernst mit Leo.
Als die Handlung beginnt, ist es kurz vor Ostern, und Leos Vater ist verschwunden. Hat einfach die Wohnung verlassen, ohne Bescheid zu geben. Allein die Diagnose, die ein Arzt wenig zuvor gestellt hatte - er sprach von Demenz -, gibt einen Hinweis auf das, was passiert sein könnte. Sprich, Leo ist von nun an in mehrfacher Hinsicht auf sich gestellt. Was aber der Beginn einer Tragödie sein könnte, entwickelt sich unter der Feder von Tobias Wagner, der für sein Debüt in diesem Jahr mit dem Peter-Härtling-Preis ausgezeichnet wurde, zu einer Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte und Roadmovie, die den filmischen Ehrgeiz Henris formal aufgreift und mit schnellen Szenenwechseln, schlagfertigen Dialogen und schönen Cliffhangern durchs Geschehen führt.
Dass dieses Geschehen überhaupt seinen Lauf nehmen darf, liegt aber allein an Leo, der nach einer kurzen, ergebnislosen Suche nach seinem Vater der Verzweiflung widersteht und den Spieß kurzerhand umdreht: Wenn der Vater schon mal weg ist, könnten die Freunde in der sturmfreien Bude ja auch eine schöne Osterwoche verbringen. Gesagt, getan.
Dass im Laufe dieser Osterwoche in besagter Wohnung eine Party steigen wird, bei der Henris und Leos Debütfilm (Titel: Death in Brachstedt) vor den versammelten Schulkameraden Weltpremiere feiert; dass Leo am Ende dieser Woche die Wohnung verlassen und zu seiner Tante Lisa ziehen wird, wobei ihm beim Umzug wiederum die halbe Klasse zur Seite steht - all dies sieht er natürlich nicht kommen, als er sich von Henris schrägem Elan aus dem Sumpf ziehen lässt. Aber etwas vermeintlich Irres tun, ist vielleicht doch besser als gar nichts tun, so viel hat Leo vom Vermächtnis seiner Mutter verinnerlicht.
Und so lernt er im Laufe einiger weniger Tage nicht nur, was Arthousekino und was ein Essayfilm ist, wie man Kunstblut herstellt und ohne Drehbuch filmt. Er lernt vor allem, auf etwas zu hören, was man altmodisch als innere Stimme bezeichnen könnte - auch wenn diese Stimme in Leos Kopf natürlich klingt, als käme sie aus dem Tatort und stamme von Nora Tschirner. Aber es ist ja egal, von wem sie stammt. Hauptsache, sie sagt was Schlaues, und wichtiger noch - jemand hört zu. LENA BOPP
Tobias Wagner: "Death in Brachstedt". Roman.
Beltz & Gelberg, Weinheim 2025. 208 S., br., 14,- Euro. Ab 15 J.
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