Besprechung vom 06.08.2019
Längizyti haben die Portugiesen nicht exklusiv
Wer übersetzt, muss sich entscheiden, denn oft genug steht für ein Wort der Ausgangssprache gleich eine ganze Reihe in der Zielsprache zur Verfügung, so dass eine schillernde Bedeutung mitunter notwendig verengt wird. Es kommt aber auch vor, dass ein Übersetzer erfinden muss, was er nicht durch eine bereits bestehende Entsprechung ausdrücken kann, weil es sie einfach nicht gibt. Das heißt nicht nur, dass die Ausgangssprache in diesem Punkt reicher ist als die Zielsprache - und das womöglich aus guten Gründen, weil etwa nicht jedes Land 121 unterschiedliche Arten von Schnee kennt -, sondern auch, dass der Übersetzer zwischen einer lautmalerischen Neuschöpfung einerseits und einer längeren Umschreibung des gesuchten Worts andererseits wählen muss.
Der Übersetzerin Sofie Blind wird es oft genug so gegangen sein. In ihrem Buch "Wörter, die es nicht auf Hochdeutsch gibt", versammelt sie eine Fülle von Begriffen, die in bestimmten deutschsprachigen Regionen jeweils gängig sind, die dort gesprochen und verstanden werden, die aber in den anderen keine Entsprechung haben - seltener, weil auch das Phänomen regionaltypisch ist, häufiger aber, weil es eben nur dort gelungen ist, dafür einen einleuchtenden Begriff zu finden.
So gibt es die mobilen Abtrennungen zwischen den Waren, die einzelne Kunden auf das Laufband vor der Supermarktkasse legen, wahrscheinlich überall in Europa, aber wo hätte man eine hübschere Bezeichnung dafür gefunden als das plattdeutsche "Miendientje"? Sie leite sich, schreibt Blind, von den Worten "mein" und "dein" ab, weil es die beabsichtigten Einkäufe der Kunden nach genau dieser Kategorie trennt. Im "Miendientje" aber kommen sie zusammen, und weil das Trennwerkzeug am Ende doch nicht das Entscheidende ist, gemessen an Brot, Butter und Wurst, bekommt es das Verkleinerungssignal angehängt und lässt den Leser, der südlich der Elbe zu Hause ist, über die Gestaltungsmacht des Plattdeutschen staunen.
Wenigstens so lange, bis er im Buch auf das bayerische Adjektiv "dramhappert" stößt, das mit "traumhäuptig" nur unzureichend ins Hochdeutsche gebracht werden könnte und jedenfalls einen Zustand umschreibt, in dem man Bildern nachsinnt, die man eben noch im Schlaf durchlaufen hat. Oder auf das saarländische "Geheischnis" - das sei, schreibt Blind, "etwas, das ein Gefühl von Geborgenheit hervorruft". Oder auf das im Berndeutsch übliche "Längizyti", nicht zu verwechseln mit banaler Langeweile, sondern "ein melancholisches Gefühl von Weltschmerz, am ehesten vielleicht mit der portugiesischen saudade vergleichbar", was einmal mehr zeigt, das Gestimmtheit nichts mit Land und Meer zu tun hat, ihre sprachlichen Ausdrucksformen aber schon.
So liest man weiter und weiter, man verliert sich in den feinsten Regionalismen und kommt vom "Blomenkieker", dem "langsam fahrenden Touristen" im Norden, auf tausend Umwegen zu den "schnäderfrässigen" Gourmets in der deutschsprachigen Schweiz, die sich beim Essen ausgesprochen wählerisch zeigen (und für die Blind eine ganze Reihe Entsprechungen in unterschiedlichen deutschen Regionalsprachen aufzählt). Vor allem aber steuert Nikolaus Heidelbach zu jedem Eintrag ein Bild bei, das ihn wiederum aus dem Speziellen ins Universale wendet - der "Blötsch" etwa, die Druckstelle am Obst, malt er als Apfelgesicht, das argwöhnisch die Augen dorthin wendet, wo die Fäulnis droht, und das "Fluchtachterl", der letzte Schluck an einem langen Abend, bekommt Beine, die den Trinker durch die Nacht verfolgen.
Am schönsten gelingt ihm das aber im selbstreferentiellen Bild zum "Hudeln", dem aus Österreich und Süddeutschland stammenden, inzwischen längst nicht nur mehr dort gebräuchliche Verb: Er hudelt nun selbst, flüchtig skizzierend und doch mit großer Anmut, das Bild eines zeichnenden Jungen zurecht. (spre)
Sofia Blind, Nikolaus Heidelbach: "Wörter, die es nicht auf Hochdeutsch gibt".
DuMont Buchverlag, Köln 2019. 112 S., geb.
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