Besprechung vom 25.05.2025
Du bist nicht allein
In ihrem Romandebüt erzählt die brillante Essayistin Lauren Elkin von zwei Frauen, die zwischen 1972 und 2019 in Paris ihre Freiheit erobern.
Von Annabelle Hirsch
Es gibt ein Lied der französischen Sängerin Clio, es heißt "Éric Rohmer est mort", Éric Rohmer (der französische Filmemacher) ist tot. Sie singt darin, mit sehr sanfter Stimme: "Éric Rohmer est mort et moi j'en veux encore." Éric Rohmer ist tot, und ich, ich will noch mehr: "De ces amoureux dans les trains de banlieue . . .", von diesen Verliebten in den Banlieue-Zügen, von den Pariser Parks, in denen man Händchen hält, diesen Leuten, die in der Metro lesen, den mathematischen Diskussionen. Vor dem Regal der Abteilung "Éric Rohmer" stünden Dutzende Waisen, die auf den nächsten warten, singt Clio gemeinsam mit dem Rohmer-Schauspieler Fabrice Lucchini, der verzweifelt in die Aufnahme krächzt.
Wem es wie Clio und Lucchini geht, wer sich nach einer Welt à la Éric Rohmer sehnt, eine Welt, die voll ist von Sehnsucht, Cafés, Politik, Psychologie, Zigarettenrauch, von Menschen, die viel lesen und sehr bedacht sprechen, am liebsten über die Liebe, die mit dem Konzept der Monogamie hadern, wird im Roman "Fassaden" der frankoamerikanischen Autorin Lauren Elkin ein neues Zuhause finden. Nicht etwa, weil Lauren Elkin klingt, als sei sie ein Mann, der aus den Sechzigerjahren heraus schreibt. Überhaupt nicht, hier schreibt ganz eindeutig eine Frau von heute. Auch nicht, weil der zweite Teil des Buchs direkt mit einem Zitat aus dem Rohmer-Film "Liebe am Nachmittag" beginnt: "Seitdem ich verheiratet bin, finde ich alle Frauen schön." Noch nicht einmal, weil Paris in diesem Buch so etwas wie eine Protagonistin ist, ein Körper, in den sich alle Bewohner und ihre Geschichten eingeschrieben, alle ihre Spuren hinterlassen haben.
Man findet ein Zuhause in diesem Roman von Lauren Elkin vielmehr wegen eines Esprits, eines Sinns für die Poesie des Alltags und der großen Fragen, die oft in kleinen Momenten liegen: Warum wollen wir, was wir wollen? Wollen wir es überhaupt oder glauben wir nur, es zu wollen? Worum geht es wirklich, bei der Liebe, der Lust? Wo findet man sein Zuhause? In Wohnung, Städten, Vierteln? In Körpern vielleicht? Können wir uns frei machen von der Vergangenheit und ihren Spuren in den Wänden, in unserer Haut, in unseren Herzen? Können wir uns je wirklich verstehen, uns je wirklich nah sein oder müssen wir einsehen, dass die totale Einheit, wenn überhaupt, dann nur momenthaft wie ein Blitz existiert?
In der britischen Zeitung "The Guardian" schrieb eine Kritikerin vor einigen Monaten, als "Fassaden" im englischen Original erschien, nicht jede gute Essayistin sei auch eine gute Romanschreiberin, bei Lauren Elkin sei dies allerdings anders. Ein Glück, dass sie den Sprung gewagt habe, meint die Kritikerin. Und es stimmt. Seit ihrem ersten Buch, "Flâneuse. Frauen erobern die Stadt", ist Lauren Elkin eine wichtige Stimme der feministischen Autotheorie, einer Verschränkung von Essay und Memoir. Die Schriftstellerin Deborah Levy nannte Elkin sogar einmal die "Susan Sontag ihrer Generation".
Und doch: So brillant ihre Essays auch sind, so gerne man mit ihr, George Sand, Jean Rhys und anderen durch Paris, Tokio, New York flaniert, oder, wie zuletzt in "Art Monsters", monströse Körper der weiblichen Kunst und des weiblichen Schreibens von Carolee Schneemann bis Kathy Acker erkundet, so viel besser ist dieser neue Roman. Vielleicht weil das Kräfteverhältnis zwischen Theorie und Leben umgedreht ist. Weil das Leben hier nicht den Bauch einziehend am Rand stehen muss, um den Essay zu rahmen, sondern die Theorien erst zurate gezogen werden, wenn das Leben längst begonnen hat. Wenn es atmet, sich breitmacht, in ein emotionales Durcheinander abrutscht und deshalb erklärt werden möchte. Erklärt wird in "Fassaden" vieles. Es ist, ganz im Sinne von Rohmer, ein sehr belesener Roman, der um belesene, man möchte fast sagen "kultivierte" Menschen kreist. Elkins Figuren lieben Georges Perec, Chopin, Plato, Janet Malcolm und vor allem den Psychoanalytiker Jacques Lacan.
Eines der meistzitierten und von ihren Figuren am allerliebsten herangezogenen Bücher ist Lacans legendäres "Encore". Ein Nachdenken über Sexualität, Lust, Männer und vor allem Frauen. Und genau darum geht es in "Fassaden", um Psychoanalyse, Sexualität, Lust, Männer. Und vor allem Frauen. Verhandelt werden diese Themen in zwei Geschichten, die in zwei Epochen (zufälligerweise zwei Hochmomenten des Feminismus) spielen. Die eine 1972, in der zweiten Welle des Feminismus, die andere 2019, in der dritte Welle, im Neofeminismus. Der Schauplatz ist ein und derselbe: eine Wohnung auf dem Hügel von Belleville, dem einstigen Arbeiter- und Emigrantenviertel im Nordosten von Paris. Die Wände der Wohnung bieten die Verbindung zwischen Gestern und Heute, zwischen zwei Frauen, Anna und Florence. Beide versuchen, ihre Wünsche nach Liebe, Leidenschaft, Mutterschaft, ihr Bedürfnis nach Freiheit und Geborgenheit, Nähe und Distanz irgendwie zusammenzubekommen, ohne sich oder andere mit all dieser Widersprüchlichkeit allzu sehr zu verletzen.
Dass dies auch heute noch eine ziemliche Zerreißprobe sein kann und der Versuch, sich selbst treu zu sein, einen oft orientierungslos im Nebel der eigenen Begierde herumtappen lässt, wird im ersten Teil, dem von Anna, dem des Jahres 2019, sehr klar. Anna ist eine an Lacan geschulte Psychoanalytikerin, neununddreißig Jahre alt, und hat vor Kurzem eine Fehlgeburt erlitten. Seitdem ist sie krankgeschrieben und sitzt etwas verwahrlost in der Wohnung herum. Die Wohnung war als Rahmen für ein Leben zu dritt gedacht, nun wirkt sie, als hätte jemand das passende Bild geklaut.
Ihr Mann, David, ist in London, er ist Anwalt, macht "irgendwas mit Brexit", so genau weiß sie es nicht. Eigentlich sollte sie zu ihm rüberziehen, doch sie kann sich nicht dazu entschließen. Stattdessen denkt sie über die Renovierung ihrer Küche nach, die sie dann aber doch nie beginnt, und schaut der Zeit beim Verstreichen und ihren Gedanken beim Rotieren zu.
Anna hat die Dringlichkeit an die Traurigkeit verloren, schreibt Elkin, der Fluss ihres Lebens ist unterbrochen, ins Stocken gekommen. Bis sie Clémentine trifft, genannt Clem'. Clémentine ist jung und voller Elan. Sie liebt Männer und Frauen, weiß noch nicht genau, wohin mit sich, aber macht einfach, lebt. Nicht rückwärts, sondern nach vorne. Nicht nach innen, sondern nach außen. Während Anna in sich selbst und ihrer Vergangenheit gräbt, drängt Clémentine nach vorne und engagiert sich auf den Straßen für eine bessere Zukunft. Nachts streift sie mit ihren Freundinnen durch Paris und tapeziert die Hausfassaden mit Ausrufen wie "Du bist nicht allein", "Sie verlässt ihn, er bringt sie um", "Wir hören auf zu kleben, wenn ihr aufhört zu vergewaltigen". So wie die im Paris der Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts real existierenden sogenannten Colleuses, Kleberinnen, versuchen Clem' und ihre Freundinnen, durch ihre Aktionen auf die nicht sinkende Zahl der Femizide aufmerksam zu machen - und das, was hinter verschlossenen Türen passiert, nach außen zu kehren. Auf die Hausfassaden zu schreiben. Laut und sichtbar für alle.
Die zweite Geschichte, die in die erste dieses Romans eingeschoben ist wie in ein Sandwich, kreist um Florence. Oder genauer um Florence und ihren Mann Henry. Elkin lässt die beiden abwechselnd in einem inneren Monolog sprechen. Und führt damit leicht Sally-Rooney-haft vor, wie sehr man sich missverstehen, aneinander vorbeileben und sich schließlich voneinander entfernen kann, auch wenn man sich eigentlich nah ist und sehr liebt.
Florence und Henry ziehen 1972 in eine Wohnung, die seiner Großmutter, einer Überlebenden der Schoa, gehörte. Auch sie haben eine Zukunft vor Augen, nur ist das Bild, dass sie jeweils vor sich sehen, nicht dasselbe. Henry findet alles herrlich, so, wie es ist, so soll es bleiben. Florence sehnt sich nach einer Familie, zugleich aber auch nach Aufbruch, nach mehr Platz für die Frauen, nach neuen Formen der Beziehung. Sie will verstehen, was es heißt, ein Mensch zu sein, und geht dafür wie besessen zu den Seminaren eines gewissen Jacques Lacan. Dem "Maestro". Ihr Ehemann hinkt etwas hilflos hinterher. Er liebt sie, will sie unterstützen, will ihr folgen, kommt aber mit dieser Frau nicht mit, die niemanden um Erlaubnis bitten will, sondern sich nimmt, wonach ihr Herz und ihr Körper verlangen. Es ist ein bisschen rührend, wie Elkin diesen Mann porträtiert. Er ist ein guter Typ, liebt seine Frau wirklich, will alles richtig machen, liegt am Ende aber doch furchtbar daneben und robbt aus Überforderung in alte Muster zurück.
Man kann Lauren Elkins neuen Roman auf ganz unterschiedliche Weise lesen, kann selbst wählen, welche Brille man anziehen, mit welchem Fokus man durch die Erzählung flanieren will. "Fassaden" ist ein Buch über Paris, über das Viertel Belleville und sein jüdisches Leben, ein Sinnieren darüber, welche Geschichten die Häuser, in denen wir leben, unter der Tapete in sich tragen, welche Verbindungen zwischen uns und denen, die vor uns da waren, existieren. Es ist ein Buch über den Feminismus, den von gestern, den von heute, über die Generation, die, so wie im Fall von Anna, zwischen den beiden Momenten des Aufbruchs hängt und weniger Zorn, weniger Drang, dafür aber mehr Melancholie verspürt. Vielleicht ist es aber auch einfach ein Buch über den Wunsch, sich zu verstehen, und den Mut zu finden, seinem Gegenüber zu zeigen, was man ist, was man will. Was hinter der Fassade des eigenen Seins passiert.
Lauren Elkin, "Fassaden". Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Nagel und Kimche, 480 Seiten
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