
Lutz Seiler kehrt nach zwei Romanen zurück in den Heimathafen der Gedichte. Zurück in die Stimmen der Kindheit, ins Waldstadion, in den »Knochenpark« und zur Frage, wo unser »eignes schmales erdreich ankern kann«. Er entdeckt den »Ahnenapparat« seines vom Uranbergbau geschleiften Heimatdorfes, um dort »seinen Toten« zu lauschen. Er durchstreift die Klangwelt des märkischen Kieferngewölbes und ist unterwegs: ob in den Legenden von Trouville oder in Stockholm, seiner zweiten Heimat, immer auf der Suche nach einer »schrift für blinde riesen« und ihrem Blick dorthin, »wo die welt vermutet werden könnte«.
Mit seiner suggestiven Stimme und einer gehärteten Sprache jenseits aller Moden eröffnet Lutz Seiler einen ureigenen poetischen Raum. Vor allem ist es die Materialität der Dinge, das Sprechen nah an den Substanzen - verwandelt in Rhythmus und Klang, bilden sie den Erzählton seiner neuen Gedichte: »Der Hallraum eines Gedichts sollte nicht kleiner sein als der eines Romans«, schreibt Seiler. »Jedes gute Gedicht kann der gestische Kern eines Romans sein und die Verbindung herstellen zum Ursprung des Genres: zum Epos und seinem Gesang. «
Besprechung vom 27.09.2025
Der Mond hat eine Schraube locker
Der unpoetische, lapidare Titel "für alle & jeden" deutet darauf hin, dass das Gedicht eine universelle Botschaft enthält. Es scheint, als wolle der Autor eine Erfahrung oder Einsicht teilen, die für alle Menschen von Bedeutung ist. Und obgleich das Gedicht in einfacher Sprache geschrieben ist, öffnet es doch eine metaphorische Welt, in der die Nacht, der Traum und der Mond zentrale Rollen spielen.
Inhaltlich beginnt das Gedicht mit einer Alltagserfahrung, der Erinnerung an einen Traum der letzten Nacht. Damit wird beim Leser mutmaßlich Neugierde erweckt, und er wird auf diese Weise geschickt in das Gedicht gezogen. Zugleich verankert die erste Zeile damit das Gedicht in den Sphären des Traums, also in jenen Sphären, die Zugang zu unbewussten Gedanken und tiefen Wahrheiten gewähren können.
Wovon handelte der Traum? Bereits die zweite Zeile gibt darauf umgehend eine Antwort: Er handelt "vom abgeschraubten mond". Das uralte, immer schon mythische Symbol des Mondes wird mit der Nacht, mit Romantik und Unbewusstem assoziiert. Ihn abzuschrauben, also aus seiner gewohnten Position zu entfernen, suggeriert eine Störung des natürlichen Gleichgewichts und eröffnet eine neue Perspektive auf das Bekannte. Im doppelten Sinne wird hier eine Verblendung abgeschraubt.
Die Beschreibung des Mondes als "bronze-glühend", nachdem er abgeschraubt wurde, hebt die Verwandlung des Vertrauten in etwas Überraschendes und Außergewöhnliches hervor. Bronze und Glühen stehen hier für etwas Antikes, Wertvolles und zugleich Vergängliches. Diese Stelle erinnert auch an Georg Büchner: "Der Mond ist wie ein blutig Eisen!" heißt es im "Woyzeck".
Rost und Öl sind Symbole des Verfalls und der Pflege. Sie weisen auf den Alterungsprozess und auf Erhaltung notwendigen Maßnahmen hin. Diese Gegensätze unterstreichen die Spannung zwischen Zerfall und Bewahrung. Die mechanischen Elemente Bolzen und Bohrungen stehen in starkem Kontrast zur romantischen Vorstellung des Mondes. Sie verweisen auf die Konstruiertheit und die oft verborgene technische Grundlage von Dingen, die wir als selbstverständlich wahrnehmen.
Das Gedicht verwendet eine einfache, aber eindrucksvolle Sprache. Typisch für Seilers Lyrik sind dabei die Kleinschreibung und die Verwendung des Et-Zeichens. Das sprachliche Mittel der Alliteration ("bolzen & die bohrungen") sowie die Kürze und Prägnanz der Zeilen tragen zur Intensität der beschriebenen Bilder bei.
In Seilers autofiktionalem Roman "Stern 111" arbeitet der Protagonist fast ein Jahr lang an einem Gedicht mit dem palindromischen Titel "reiz & zier". Er betrachtet es erst als fertig, als er bemerkt, dass das Gedicht einen Punkt traf, "über den er zuvor nicht Bescheid gewusst hatte", als "wäre es nicht von ihm selbst geschrieben". Diesen hohen poetologischen Anspruch erfüllt auch das vorliegende Gedicht "für alle & jeden": Jedes Wort ist sorgfältig gewählt, jeder Zeilenumbruch mit Bedacht gesetzt.
Die letzte Enthüllung im Gedicht zeigt schließlich eine alte Halterung, die nun für alle sichtbar ist. Diese Entblößung des Verborgenen kann als Metapher für das Sichtbarmachen von Strukturen und Mechanismen verstanden werden, die normalerweise im Verborgenen bleiben. Es ist eine Art Offenbarung, die den Leser dazu auffordert, hinter die Oberfläche zu blicken und die Grundlagen zu erkennen, die das Sichtbare stützen.
Die Biographie von Lutz Seiler, der 1963 in Gera geboren wurde und bis zum Ende der DDR im Osten lebte, legt nahe, das Gedicht auch auf Seilers untergegangenes Heimatland zu beziehen. Als das runde Wappen mit Hammer und Zirkel 1989 abgeschraubt wurde, entpuppte sich der beschriebene Traum als wahr.
Seilers Gedicht bietet eine tiefgründige Reflexion über das Verborgene und das Offenbare, das Vertraute und das Unbekannte. Es ist ein lyrischer Appell zur Achtsamkeit und zum Bewusstsein für die oft unsichtbaren Strukturen, die unser Dasein prägen.
Lutz Seiler: "schrift für blinde riesen". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 112 S., geb., 24,- Euro.
Von Henning Heske ist zuletzt erschienen: "Zeitstromende". Ausgewählte Gedichte. Verlag tredition, Hamburg 2018. 132 S., geb.
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