Möge der Tigris um dich weinen. Es weinen hier aber noch einige mehr und nicht nur der Tigris. Sicher. Aber wer soll fanatisches Denken bekämpfen, wenn die Macht, die Gewalt, die Herrschaft bei den Fanatikern sitzt. Und was macht eine Familie, wenn diese Fanatiker in der eigenen Familie sitzen? Was kann so eine Familie tun? Außer dem Geschehen fassungslos beiwohnen. Dem Geschehen fassungslos beiwohnen müssen. Ohne etwas tun zu können, da man sich beim Tun selber gefährden würde. Sein eigenes Todesurteil unterschreiben würde. Kann man so ein Tun aus unserer Sicherheit heraus bewerten? Meiner Meinung nach nicht. Denn hier schwingt die Frage mit, was hätte man selbst getan. Und nun ja, die Heldendichte unter uns, nun ja, sie ist gering. In "Möge der Tigris um dich weinen" schaut Emilienne Malfatto auf eine irakische Familie, eine irakische Familie, die wegen der Gewalt aus Bagdad in die irakische Provinz flieht. Eine irakische Familie, die den Vater verliert. Einen Vater, den ich nicht unbedingt als Fanatiker wahrgenommen habe. Der älteste Sohn wird das Oberhaupt in der nun vaterlosen Familie, ein Sohn, der nun die Gewalt und die Macht innehat. Ein Sohn, ein junger Mensch mit wenig Lebenserfahrung. Ein Sohn, für den der Ehrbegriff Bedeutung hat und der anders beschrieben wird als der verstorbene Vater. Der Sohn ist ein Kämpfer, ist einer der Fanatiker. Obwohl ich sagen muss, dass er und auch sein Freund gegen den IS gekämpft haben, was wieder etwas für sie spricht, den Sohn jedoch nicht von diesen alten patriarchalen Sichten befreit. Die Tochter der Familie war mit dem Freund ihres Bruders zusammen. Doch hier stelle ich mir unweigerlich Fragen. Wie war dieses Zusammensein in der Familie geregelt, wie war dieses Zusammensein möglich? Diese Frage wird hier in dem Buch leider weniger betrachtet. Ich stelle sie mir dennoch. Kann dies möglich sein in der strengen irakischen Gesellschaft? Fakt in dem Buch ist jedoch, die Tochter ist schwanger, der Freund des Bruders ist im Gefecht gestorben, ohne dass die junge Tochter mit ihm verheiratet war. Die Ehre der Familie und die Ehre der Tochter stehen nun auf dem Spiel. Das Todesurteil der jungen Frau ist damit unterschrieben. Ein schreckliches Szenario. Denn dass die Schwangerschaft, ein weiteres Leben also ein Grund für den Tod ist, dies ist wohl unbegreifbar. Und grauenhaft. Und es zeigt eine vollkommen kranke und lebensfeindliche Sicht! Die Familienmitglieder kommen zu Wort und schildern ihre Sichten, ihre Meinungen, welche nicht völlig mit den Sichten des älteren Bruders zusammenfinden. Aber handlungsfähig ist wirklich niemand. Ein Horror. Ein Horror der mit dem Tod endet. Ein Tod, der die Familienmitglieder begleiten wird, ein Tod, der sie nie verlassen wird. Schrecklich!Mit eingebunden in das Buch hat die Autorin auch die Vergangenheit des Irak, in dem sie den Tigris sprechen lässt und auch das Gilgamesch-Epos mit einbezieht. Ein Land mit einer großartigen Vergangenheit, in der auch Frauen gleichberechtigter in der Gesellschaft verortet waren, blickt auf dieses unsägliche Jetzt, das in Teilen der irakischen Gesellschaft zu finden ist. Hier ist es ein Grauen, das im Jetzt lebt. Meist ist es ja eher andersherum.Das Buch ist sehr intensiv geschrieben. Eine intensive Schreibe, die wütend macht. Aber ebenso eine Schreibe, die auch etwas gefährlich ist. Denn irgendwie verleitet sie zu Verallgemeinerungen. Auch in der irakischen Gesellschaft wird es fortschrittlicheres Denken geben. Auch dort ist nicht jeder ein Fanatiker. Das darf man bei der Lektüre nicht vergessen. Nicht jeder würde ein Familienmitglied dem Ehrbegriff opfern und dann auch noch einen Menschen der eigenen Familie einfach umbringen. Das hoffe ich sehr. Das wünsche ich mir. Nur ob es wirklich so ist, kann ich leider nicht beurteilen. Leider. Ich denke mir nur, dass z. B. bei den Kurden, den Jeziden, den Assyrern/Aramäern/Mandäern, den Armeniern, den Juden, den Marsch-Arabern(Maadan) andere Betrachtungen zur Frau zu finden sind. Und ich möchte dies hier anmerken um Verallgemeinerungen zu vermeiden. Und ja, die Suche im Netz lässt mich hier frohlocken. Auch im Irak gibt es mittlerweile feministische Bewegungen. Yeah! Aber dennoch gibt es im Irak eben auch die schreckliche Einschränkung der Frauenrechte, die Entrechtung der Frauen, was das Buch ja thematisiert.Das Buch ist intensiv und sehr traurig. Es bewegt sehr! Ich möchte auch in keiner Weise mit meinen Bemerkungen irgendwie die Grundaussage des Buches schmälern oder negieren. Denn dieses Buch ist richtig und überaus wichtig!