"Es ist beeindruckend, wie gut man sich in Kleidung und hinter Make-Up verstecken kann. Wie glücklich zwei unglückliche Menschen aussehen können. Wir hätten mich auch überzeugt - eine perfekte Lüge mit lächelnden Gesichtern."Eigentlich wollte damals Helene ihren Mann Georg verlassen. Nach zahlreichen erfolglosen Versuchen, ein Kind zu bekommen war ihre Beziehung festgefahren, ihre Ehe unglücklich. Und eigentlich gab es da schon immer Alex, Helenes große Liebe von früher. Fast hätte Helene Georg für ihn verlassen - aber genau dann wird sie doch schwanger und bleibt bei Georg. Mit Alex im Herzen."Ich ließ Alex nicht los, vielleicht weil ich nicht wusste, wie. Als hätte ich immer an ihm festgehalten, solange ich ihn kannte, über Landesgrenzen und Jahre hinweg. Während ich das dachte, beschlich mich das Gefühl, dem Falschen zu gehören. Dass ich nicht zu jemandem, sondern jemandem gehörte m Auf dem Papier war ich Georgs Frau. Erst diese Tatsache machte mich in Alex' Armen falsch. Als hätte eine einzige Unterschrift mich zum Eigentum eines anderen gemacht."Nun sind Georgs und Helenes beiden Kinder im Teenageralter und Georg verlässt Helene für eine andere: "Es ist einfach passiert." Georg zieht mit der Tochter Anna zu seiner neuen Freundin, Helene kauft ein renovierungsbedürftiges Häuschen, in der sie mit Sohn Jonas zieht. Gleichzeitig mit der Hausrenovierung beginnt auch eine Runderneuerung von Helenes Leben. In Rückblicken wird von ihrer Vergangenheit erzählt, von den Fehlgeburten und Versuchen, schwanger zu werden. Von ihrer Überforderung als Mutter und gleichzeitig berufstätige Frau. Von ihrer eigenen Kindheit mit ihrer gefühlskalten Mutter (das fand ich besonders heftig). "'Mutter hat alles um sich herum kontrolliert ', sagt Henri. 'Sie war die manipulativste Person, der ich je begegnet bin. Ich habe keine Ahnung, wer ich ohne sie bin', sagt er. 'Es ist, als hätte sie mich gemacht."Ich kenne dieses Gefühl - den Blick in den Spiegel. Die Rückversicherung, die man sucht, weil man keine Ahnung hat, wer man ist. Weil man sein gesamtes Leben auf ein Gegenüber gepolt war, das einem den Weg gewiesen hat. Wie ein Kompass, und sie war der Norden - nur dass ich in den Süden wollte. So weit weg von ihr wie möglich.""In dieser Zeit dachte ich oft an meine Mutter, daran, was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass ich eine Kinderfrau brauchte, um mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Ich habe es ohne Unterstützung geschafft, sagte sie gehässig in meinem Kopf, worauf ich in Gedanken erwiderte: Und ich ohne deine Liebe."Auch ihre Tochter Anna kommt in einigen Kapiteln zu Wort, diese fand ich gut, aber nicht so gelungen wie die Abschnitte aus Helenes Perspektive. "Und in dem Moment denke ich an mich auf diesem Sessel, und mir wird schlagartig klar, dass ich nicht mehr dieselbe Frau bin. Als wäre ich mir mit den Jahren unerkannt näher gekommen, als hätte ich Schicht für Schicht abgetragen. Damals jung und schön und sportlich, ein Gesicht ohne Falten, vom Leben nicht gezeichnet, aber auch nicht davon durchdrungen."Gegen Ende hin gibt es ein paar kleine Schwächen, besonders was die Erklärung bezüglich Georgs Verhalten Jonas gegenüber angeht, Annas veränderter Denkweise Helene gegenüber, aber auch insgesamt flaut die Story etwas ab bis hin zum (vielleicht) unerwarteten Ende. Insgesamt hat mich jedoch Anne Freytags Erzählstil wieder begeistert. Ich mag ihre Art zu schreiben sehr: mal emotional, mal humorvoll, teils auch bitterböse - und immer treffend.Allerdings hatte ich zuvor ihr aktuelles Buch "Blaues Wunder" gelesen, welches für mich ein absolutes Highlight war. An dieses kommt "Lügen, die wir uns erzählen" leider nicht ganz heran. Dennoch kann ich es empfehlen und vergebe 4¿¿