Besprechung vom 03.09.2024
Ein Schnaufen wie die Verschiebung von Erdmassen
Prominentenprosa? Keanu Reeves erschafft gemeinsam mit dem Fantasy-Autor China Miéville einen fesselnden Roman: "Das Buch Anderswo".
Wer einen unsterblichen Helden erfindet, hält sich ein Schlupfloch offen. Denn eine Figur, die durch die Zeiten wandelt, bietet die Möglichkeit, sie nach Belieben in unterschiedliche historische Kontexte und damit auch Genres zu werfen. Der Hollywood-Star Keanu Reeves hat solche Helden nicht nur in Filmen gespielt, er brachte 2021 auch einen Comic heraus, in dem er einen achtzigtausend Jahre alten Krieger auf die Welt losließ - und weil man mit unsterblichen Charakteren immer neue Geschichten erzählen kann, legt Reeves nun mit "Das Buch Anderswo" sein Romandebüt vor.
Dass Hollywood-Berühmtheiten sich auch als Autoren versuchen, ist längst keine Seltenheit mehr. Tom Hanks, Sean Penn, Ethan Hawke, Carrie Fisher oder Jim Carrey brachten in den vergangenen Jahren mal mehr, mal weniger Gelungenes auf den Buchmarkt. Reeves hat seinen Kollegen allerdings Bescheidenheit voraus. Er gibt gar nicht erst vor, auch auf dem Gebiet der Literatur ganz allein künstlerische Hochleistungen vollbringen zu können, sondern hat sich von Beginn an Unterstützung geholt. Sein Komplize ist der mehrfach ausgezeichnete britische Phantastik-Schriftsteller China Miéville. Als dessen Agent ihm das Angebot überbrachte, dass Reeves mit ihm arbeiten wolle, hielt er das zunächst für einen Scherz, überzeugte sich dann aber schnell vom erzählerischen Potential der Comic-Figur und sagte zu.
Miéville dürfte die Komplexität der Erzählstränge zu verdanken sein, die sich in "Das Buch Anderswo" virtuos ineinanderschlingen; um den Lesern einen Pfad durch den Dschungel der verquickten Zeitebenen zu schlagen, setzt sich die Haupthandlung im Schriftbild deutlich von den rückblickenden Episoden ab. Wohin also entführt uns das Buch?
Der Krieger "B" arbeitet in einer Welt, die unserer heutigen ähnlich ist, mit einem Geheimdienst zusammen, der Bs Unsterblichkeit für militärische Zwecke untersuchen will. Der Forschungsleiter Caldwell und die Wissenschaftlerin Diana hängen an seinen Lippen, wenn der wortkarge Kämpfer von vergangenen Zeiten und untergegangenen Kulturen, "von Atlantis und Mu und Hyperborea" erzählt. Sie wissen, dass der Mann etwas ist, das alte Legenden wohl als "Halbgott" bezeichnet haben: geboren aus der Vereinigung eines Blitzes und einer Menschenfrau, ins Leben geworfen, um Rache an den Feinden der Mutter zu nehmen. Wenn ihn der Kampfrausch überkommt, flirrt blaue Elektrizität aus seinem Blick, und er unterscheidet in tödlicher Trance weder zwischen Freund noch Feind. Das B seines Namens steht für "Berserker", so erfahren wir nach rund 150 Seiten, eine Anspielung auf die skandinavischen Krieger, die ähnlich gefürchtet waren, keine Schmerzen zu spüren schienen und Schlachtfelder verwüsteten. Die beschriebenen Kampfszenen (es sind nicht wenige) sind explizit, also etwa so feinfühlig, wie es Reeves' Auftragskiller "John Wick" in der gleichnamigen Filmreihe ist, der seine Gegner auch mit einem Bleistift töten kann. B genügt der eigene Körper als Waffe: "Blau-weiße, knisternde Ekstase. Ein Hindurchpflügen durch seine Feinde, durch alles in seiner Nähe. Sein Schnaufen erinnerte eher an die Verschiebung von Erdmassen als an Speichel in einer menschlichen Kehle."
In den Rückblicken erzählen frühere Weggefährten und Geliebte aus mehreren Jahrtausenden, was sie mit B erlebt haben. Sie berichten von brutalen Stammeskämpfen, von Machtproben in babylonischen Zeiten oder den Schwierigkeiten eines blinden Passagiers während einer Schiffspassage im neunzehnten Jahrhundert. Und auch der Held selbst blickt zurück, erinnert sich an seine Suche nach Geschwistern, anderen Halbgöttern und Personen, die sein Schicksal teilen, denn das Leben eines Unsterblichen ist vor allem geprägt von Einsamkeit und Unverständnis seiner Umwelt.
Natürlich wäre es ein Leichtes, einen solchen Helden zum Übermenschen zu stilisieren. Aber Miéville und Reeves orientieren sich lieber an antiken Vorbildern des Olymps, denen die Griechen ebenfalls menschliche Fehler und Schwächen andichteten. B ist also durchaus verletzbar, spürt jeden Schmerz, auch wenn seine Wunden schnell heilen. Und, das arbeitet der Roman langsam in mehreren Kapiteln heraus, er leidet unter dem, was die Menschen aus ihm machen: Manche verehren ihn als Erlöser, andere jagen ihn als todbringenden Dämon, nichts davon entspricht der Wahrheit, mit der Zuschreibung muss er dennoch leben.
Bei aller Schwere der Thematik fehlt der feinsinnige Humor nicht. Wenn B etwa der Forscherin Diana ganz beiläufig erzählt, wie er für Beckett das Ein-Personen-Stück "Das letzte Band" aufgeführt habe, ist das zum einen ein guter Scherz, denn man stellt sich den Krieger in Krapps schrabbeligen Klamotten vor. Zum anderen stellt diese Geschichte Bs existenzialistischen Kampf in eine Reihe mit ähnlichen Figuren des Literaturkanons - wie der unsterbliche Krieger war auch Becketts Krapp dazu verdammt, seine Erinnerungen immer wieder hervorholen zu müssen, jeden Moment des Lebens, jeden Fehltritt jederzeit parat für Begutachtung und Reue.
Reeves' Comicreihe war auf zwölf Teile limitiert und verkaufte sich seit 2021 mehr als zwei Millionen Mal. Mittlerweile hat sich Netflix die Filmrechte daran gesichert, natürlich soll Reeves selbst dann die Hauptrolle spielen. Die Actionszenen, sowohl im Comic als auch in diesem Roman, kann man sich gut in einer Verfilmung vorstellen, der Tiefgang, den die beiden Autoren dem Figurenkosmos in "Das Buch Anderswo" geben, dürfte ein Film allerdings kaum so detailliert abbilden können. MARIA WIESNER
Keanu Reeves, China Miéville: "Das Buch Anderswo". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Jakob Schmidt. Gutkind Verlag, Berlin 2024.
512 S., geb.
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