Autorin Barbara Kingsolver hatte ihren Durchbruch hierzulande im vergangenen Jahr mit der deutschen Übersetzung von "Demon Copperhead", einer modernen Adaption des weltberühmten Klassikers "David Copperfield". Nun schiebt dtv einen bereits 2018 im Original erschienenen Roman nach, was mich zunächst skeptisch machte. Sehr zu Unrecht, wie ich feststellen durfte, denn erneut ist es der Autorin gelungen, einen klugen, kurzweiligen und gesellschaftskritischen Familienroman zu schreiben, der es in sich hat und noch immer topaktuell ist.Im Zentrum steht eine alte Villa in Vineland, New Jersey. Auf den ersten Blick stattlich und großzügig, auf den zweiten ohne solides Fundament und vom Einsturz bedroht. Wechselweise tragen uns die Kapitel durch zwei Zeitebenen:Nahe der Gegenwart ca. 2016 kämpft "das Megafon" Donald Trump (sein Name wird nicht erwähnt) um seine erste Amtszeit im Weißen Haus. Familie Knox, früher fest durch Fleiß und Bildung im Mittelstand verankert, hat es zurück in die Heimat und in den ererbten alten Familiensitz gespült. Vater Iano hat seine College-Professur verloren und muss sich nun mit befristeten, schlecht bezahlten Lehraufträgen durchschlagen. Mutter Willa schrieb jahrelang für ein erfolgreiches Magazin, das mangels Auflage eingestellt wurde. Großvater Nick, chronisch krank, miserabel krankenversichert und erklärter Trumpist, wird häuslich gepflegt. Geld ist Mangelware bei Familie Knox. Wenn nicht die pragmatische, linksökologische Tochter Tig gelegentlich Lebensmittel aus dem Restaurant mitbrächte, in dem sie kellnert, sähe die Lage noch elender aus. Sohn Teke scheint den Kapitalismus verstanden zu haben, er bewegt als Anlageberater große Geldsummen. Nur hat er keine Zeit für seinen mutterlosen Säugling Dusty, um den sich fortan auch die Familie kümmern muss.150 Jahre zuvor lebte mit Thatcher Greenwood ebenfalls ein gebildeter Lehrer in der maroden Villa. Ihm ist es gelungen, mit Rose eine Frau höheren Standes für sich zu gewinnen. Er ist verliebt in ihre Schönheit, muss allerdings erkennen, dass sich hinter der liebreizenden Fassade weit mehr Trennendes als Verbindendes befindet. Rose hat Ansprüche, die ein Lehrergehalt nicht erfüllen kann. Sie verschließt die Augen vor der Realität, strebt nach Höherem und gibt Geld aus, das sie nicht hat. Mit im Haus wohnen noch Thatchers Schwiegermutter Aurelia sowie die junge, burschikose Schwägerin Polly, die ebenfalls nicht bereit scheint, sich festgesteckten Rollenbildern zu beugen. Existentielle Sorgen treiben Thatcher um. Er unterrichtet das Fach Naturkunde und ist fasziniert von den modernen Lehren Charles Darwins, dessen Buch "Über die Entstehung der Arten" für Furore sorgt, weil es die klassische Schöpfungsgeschichte anzweifelt Thatchers Rektor hängt allerdings den alten Lehren an, was das berufliche Fortkommen seines jungen Kollegen Greenwood behindert. Zum Glück wohnt im Nachbarhaus Naturforscherin Mary Treat (1830 - 1923), mit der Thatcher bald eine intellektuell-inspirierende Freundschaft verbindet und die ihn wissenschaftlich unterstützt.Auf diesen zwei Ebenen errichtet Kingsolver gekonnt gesellschaftspolitische Portraits, die ihre Zeit spiegeln und doch erschreckend viele Parallelen aufweisen, teilweise mit ähnlichen Wurzeln. Es gilt das Recht des Stärkeren, soziale Absicherung ist Mangelware. Weder gibt es eine freie Presse noch unabhängige Gerichtsbarkeit. Rassismus wie Frauenfeindlichkeit ziehen sich durch die Jahrhunderte. Schonungslos legt Kingsolver die Schwächen des jeweiligen politischen Systems offen. In beiden Familien leben völlig unterschiedliche, facettenreiche Charaktere. Es wird diskutiert und disputiert. Man teilt das gemeinsame Dach, nicht aber dieselben Ansichten. Durch diese Vielfalt werden die herrschenden Meinungen breit gefächert und keinesfalls einseitig dargestellt, Graubereiche werden ausgeleuchtet. Der Gesellschaftsroman entwickelt immensen Sog, er lässt sich leicht lesen, ohne ein Leichtgewicht zu sein.Beide Familien sehen sich vor große Herausforderungen gestellt. Alte Werte bröckeln ebenso wie die alte Villa. Die Gesellschaft steht vor großen Umbrüchen. In jeder Zeit gibt es Aufklärer, deren Stimmen kaum jemand hören will, und Populisten, die einfachste Antworten geben, damit alles vermeintlich so bleiben kann, wie es ist. "Wenn die Menschen fürchten, ihre Gewissheiten zu verlieren, folgen sie jedem Tyrannen, der ihnen verspricht, die alte Ordnung wiederherzustellen." (S.282)Die beiden exemplarisch gezeigten Familien stehen nicht auf der Gewinnerseite des jeweiligen Systems. Der amerikanische Traum funktioniert nicht mehr. Kapitalismuskritik ist unüberhörbar: "Wenn irgendwas Profit abwirft, ist es per Definition gut. Wenn es wächst, darf man es nicht daran hindern. Der freie Markt ist so moralisch wie eine Krebszelle." (S. 557) Man kommt zwangsläufig ins Nachdenken, wenn man Umweltzerstörung, Klimawandel oder die sich vergrößernde soziale Schere vor Augen hat. Alles hängt mit allem zusammen, alles hat auch Schattenseiten. Aber einfache Lösungen, dogmatische Belehrungen oder Botschaften erspart uns die Autorin. Sie vertraut der Kompetenz ihrer Leser, sich selbst eine Meinung zu bilden. Das macht den Roman so interessant.Die Dialoge sind lebendig, spritzig, teilweise auch ironisch und wirken wie aus dem Leben gegriffen. Kingsolver beherrscht nachdenkliche Töne ebenso wie leichte oder humorvolle. Überhaupt empfinde ich den Text als geschliffen und stilistisch sehr elegant. Kunstvoll gelingt die thematische Verknüpfung der einzelnen Kapitel und Zeiten mit kleinen Cliffhangern, die die Handlung vorantreiben. Die Gesamtkonzeption überzeugt auf ganzer Ebene. Dass Kingsolver zusätzlich textuelle Bezüge in ihren Roman einbaut, ist ein Gewinn: Nicht nur im Namen der Protagonistin verbirgt sich eine Hommage an Willa Cather. Mehrdeutig kann man auch den genial gewählten Titel des Romans "Die Unbehausten" auslegen.Mit Sicherheit habe ich längst nicht alle Aspekte dieses breit angelegten Familien- und Gesellschaftsromans erwähnt, der an keiner Stelle thematisch überfrachtet wirkt oder langweilig ist.Unbedingt lesen!