Besprechung vom 23.04.2025
Psychiatrische Selbstdiagnosen im digitalen Aufwind
Rachel Aviv und Laura Wiesböck widmen sich auf sehr unterschiedliche Weise der Frage nach dem Verlauf der Grenzen zwischen Normalität und psychischer Krankheit.
Ist das jetzt eine normale Lebenskrise oder habe ich eine behandlungsbedürftige Depression? Ist er einfach ein verstiegener Esoteriker oder leidet er an einer Psychose? Hat sie nur ein überbordendes Temperament oder doch eine Borderlinestörung? Die Frage nach der Grenze zwischen Normalität und psychischer Erkrankung ist mindestens so alt wie die Geschichte der Psychiatrie selbst. Dass diese Frage aber nicht nur Betroffene und Psychiaterinnen angeht, sondern zentrale Aspekte des Menschseins und des gesellschaftlichen Zusammenlebens berührt, das zeigen zwei neue Bücher - auf sehr unterschiedliche Weise.
In "Sich selbst fremd" erzählt Rachel Aviv die Geschichten von fünf Menschen, bei denen psychische Erkrankungen diagnostiziert wurden, auch ihre eigene. Als sie mit sechs Jahren aufhörte zu essen, wurde bei ihr die Diagnose Anorexie gestellt. Die Essstörung überwand sie, aber der Wunsch, sich einen Reim auf diese Episode in ihrem Leben zu machen, beschäftigt sie bis heute. Ihre eigenen Erfahrungen schürten Avivs Interesse an Geschichten anderer Menschen, bei denen psychische Erkrankungen zu einem bestimmenden Faktor ihrer Lebensgeschichte wurden.
So erzählt sie von Ray, dessen zunächst erfolgreich verlaufendes Leben als Arzt und Familienvater mit Anfang vierzig in sich zusammenfällt und der später die psychiatrische Klinik verklagt, deren psychoanalytischer Behandlungsansatz ihm nicht geholfen, sondern seinen Zustand sogar noch verschlimmert habe. Sie berichtet von Bapu, einer wohlhabenden Inderin, die in einem religiösen Wahn ihre Familie verlässt um eins mit Krishna zu werden. Da ist Naomi, die in einer Psychose sich selbst und ihre zwei kleinen Kinder in den Mississippi stürzt, wobei eines der Kinder ertrinkt, und die dann viele Jahre ohne adäquate psychiatrische Behandlung im Gefängnis verbringen muss. Und schließlich Laura, Tochter aus gutem Hause, deren psychiatrische "Karriere" als Teenager beginnt und die nach jahrelanger Behandlung mit multiplen Psychopharmaka diese schließlich absetzt. Mit dem Ergebnis, dass es ihr von da an besser geht als je zuvor.
Jede dieser Geschichten und ihre Hintergründe hat Rachel Aviv im Detail recherchiert. Sie hat Angehörige und Ärzte interviewt und sich durch Briefe und Tagebücher gearbeitet. Entstanden ist ein facettenreiches Bild mit Innen- und Außenansichten, in dem das subjektive Erleben der Betroffenen beleuchtet wird und gleichzeitig Kernfragen der Psychiatrie aufgeworfen werden. Wo endet Normalität und wo beginnt Krankheit? Liegen die Ursachen psychischer Erkrankungen in der individuellen Biographie, in den sozialen Umständen oder in neurobiologischen Veränderungen? Werden die Diagnosen den Betroffenen gerecht, brauchen wir diese Diagnosen überhaupt, und wenn ja, welchen Einfluss haben sie auf das Leben der Betroffenen? Wann ist Behandlung sinnvoll, ist sie überhaupt gerechtfertigt, und wenn ja, mit welchen Methoden?
Selbstpathologisierung als Chance?
Aviv diskutiert diese Fragen kenntnisreich und einfühlsam, und sie gibt nicht vor, die Antworten zu kennen. Wann immer ihre Ausführungen auf eine eindeutige Positionierung hinauszulaufen scheinen, wird man eines Besseren belehrt. Sie lässt sich nicht auf einfache Botschaften festnageln. Psychiatrische Diagnosen können befreiend wirken, aber auch stigmatisieren und den Verlauf einer Erkrankung negativ beeinflussen. Psychotherapie oder Psychopharmaka können helfen, sich selbst weniger fremd zu sein, aber sie können auch ihrerseits krank machen. Wenn es eine klare Botschaft in Avivs Buch gibt, dann ist es die, dass einfache Botschaften der Komplexität der Sache nicht gerecht würden.
Ganz anders Laura Wiesböcks Buch "Digitale Diagnosen - Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend", das eine zunehmende Tendenz der Pathologisierung normaler seelischer Notlagen beschreibt und zweifelsfrei einen Schuldigen dafür ausgemacht hat: den Neoliberalismus. Wiesböck beklagt zu Recht eine inflationäre Verwendung von psychiatrischen Diagnosen und pathologisierenden Begriffen in den sozialen Medien. Dass ein offenerer Umgang mit psychiatrischen Diagnosen auch zu deren Entstigmatisierung beitragen könnte, mag sie nicht recht gelten lassen, sie beschreibt eher einen gegenteiligen Effekt. So bringe die Präsentation von persönlichem Leid als "beautiful suffering" die Gefahr verstärkter Schamgefühle bei der großen Mehrheit derer mit sich, die das eigene Leid als nicht bildschirmtauglich empfinden. Durch die glamouröse Inszenierung von Selbstdiagnosen wie ADHS, Depression oder Traumafolgestörung komme es letztlich zu einer Verharmlosung schwerer psychischer Erkrankungen.
Wiesböcks zentrale These ist, dass neoliberale Gesellschaften dem Individuum die alleinige Verantwortung für die eigene Gesundheit geben. Wer krank wird, hat sich nicht genug angestrengt. Das Konzept von Selfcare, das in den sozialen Medien propagiert werde, sei mit "neoliberalen Unterwerfungen verbunden (...), die konsumzentriert sind, stark individualisierend wirken und Ungleichheiten reproduzieren". Wer dem neoliberalen Leistungsanspruch nicht gerecht werde, dem böte Selbstpathologisierung die Chance, die Verantwortung für persönliches Versagen abzugeben, was wiederum die Inflation der Selbstdiagnosen psychischer Erkrankungen anheize.
Einseitige Fundamentalkritik am Neoliberalismus
Die Darstellung dieser Zusammenhänge ist insgesamt erhellend, doch greift sie an vielen Stellen zu kurz und lässt mögliche positive Auswirkungen der beklagten Phänomene weitgehend außer Acht. So macht Wiesböck es sich mit ihrer Kritik an der Ausweitung des Traumadiskurses, der die "ursprünglich medizinischen Grenzen längst überschritten" habe, zu leicht. Dass es keine medizinisch definierten Grenzen gibt, ist ja gerade das Problem. Zudem läuft die Rede vom "Trauma-Boom" Gefahr, denjenigen nicht gerecht zu werden, die es aus Angst vor Stigmatisierung bisher nicht wagten, über ihre Traumata zu sprechen. Wiesböcks Darstellung der digitalen Popularisierung von Konzepten wie mentaler Gesundheit, Achtsamkeit und Selfcare im Sinne einer produktivitätssteigernden Geschäftslogik gerät zu einer einseitig verengten Fundamentalkritik am Neoliberalismus. Kann Selfcare nicht auch Aspekte beinhalten, die sich gerade dem Diktat der Selbstoptimierung und Produktivitätssteigerung widersetzen? Sich um sich selbst zu kümmern und die eigene psychische Gesundheit im Blick zu haben kann auch bedeuten, weniger zu arbeiten, mehr Zeit mit anderen zu verbringen oder diese auch einfach zweckfrei zu verplempern.
Man mag es bedauern, dass das verwestlichte Konzept von Achtsamkeit nicht mehr viel mit seinen ethischen Ursprüngen in buddhistischen Traditionen zu tun hat. Aber vielleicht kann Achtsamkeit ja selbst in ihrer weichgespülten, massentauglichen Form ein hilfreiches Konzept sein, das uns nicht gleich zu willfährigen Dienern des Neoliberalismus macht. Wenn Yogahosenträgerinnen pauschal der Zurschaustellung des persönlichen Gesundheitsanspruchs bezichtigt werden, macht das die Argumentation nicht stärker. Im Gegenteil, ideologische Zuspitzungen dieser Art werden manche Leserin, die vor allem an einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema interessiert ist, innerlich die Augen rollen lassen. Das ist schade, denn das Thema ist hochaktuell und Wiesböcks Analyse in vielen Punkten durchaus treffsicher. Im Schlusskapitel plädiert sie dafür, dem "Bedürfnis nach Eindeutigkeit differenzierte Perspektiven entgegenzusetzen und Ungewissheit zu kultivieren, ohne Bedrohungsszenarien zu schaffen". Man ertappt sich bei dem Gedanken, dass etwas weniger Bedürfnis nach Eindeutigkeit auch diesem Buch gut getan hätte. PHILIPP STERZER
Rachel Aviv:
"Sich selbst fremd". Wahre Geschichten von psychischen
Ausnahmezuständen.
Aus dem Englischen von Claudia Voit. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2025. 304 S., geb., 26,- Euro.
Laura Wiesböck: "Digitale Diagnosen". Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend.
Zsolnay Verlag, München 2025.
176 S., geb.
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