Besprechung vom 12.05.2025
Im Schatten der Tech-Imperien
Die Folgen der Digitalisierung im globalen Süden
Digitaler Kolonialismus" - die Verbindung von zwei aktuellen Reizwörtern macht neugierig. Auf gut 300 Seiten Text mit acht kommentierten Weltkarten beschreibt das gleichnamige Buch die Schattenseiten der immer mächtigeren Tech-Imperien des frühen 21. Jahrhunderts. Es zeigt auf, wie Daten zur Ware wurden und eine kleine Gruppe von Unternehmen und Staaten inzwischen die Regeln für Technologie diktiert. Den Preis für den Aufstieg dieser neuen Machthaber an die Spitze der vernetzten Welt zahle der globale Süden. Denn in Kenia, Indien und anderswo auf der Südhalbkugel werde heute unsichtbar von Menschenhand die Knochenarbeit hinter sozialen Medien und Künstlicher Intelligenz geleistet, so die These des Buches.
Der Tech-Journalist Ingo Dachwitz und der Globalisierungsfachmann Sven Hilbig steigen tief in das bislang unterbelichtete Thema ein. Die beiden sind überzeugt, dass der ehemalige Kolonialismus die Welt bis heute prägt und nichtweiße Menschen noch immer strukturell ausgebeutet werden. "Wir wollen dazu beitragen, die Digitalisierung in den Dienst globaler Gerechtigkeit zu stellen", sagen sie. Für ihre Darstellung haben sie vor allem Stimmen aus dem globalen Süden herangezogen, wo "digitaler Kolonialismus" offenbar schon lange eine gängige Vokabel ist.
Sieben Großkapitel behandeln sukzessiv die Themen Arbeitskraft, Daten, Rohstoffe, Repression, Infrastruktur, Geopolitik und Europa. Das Buch beginnt empathisch mit den Millionen von "digitalen Tagelöhnern" im globalen Süden. Es sind meist junge Menschen mit hohem Bildungsgrad, die dort in outgesourcten Firmen US-amerikanischer Tech-Riesen arbeiten. Zum Billiglohn "moderieren" sie unter hoher physischer und psychischer Belastung die Inhalte sozialer Medien, indem sie diese von Pornographie, Gewaltexzessen, Hasstiraden und Kindesmissbrauch säubern. Oder sie "trainieren" und ergänzen nach rigiden Quoten Bild- und Sprachprogramme Künstlicher Intelligenz mit Minidetails. Ob sich mit dem Bau von US- und EU-Megafabriken als KI-Trainingszentren für Unternehmen (F.A.Z. vom 25.1.2025) an dem prekären Arbeitsumfeld etwas ändern wird, bleibt abzuwarten.
Nicht minder engagiert beschreibt das zweite Kapitel die digitale Datensammelwut im globalen Süden. Es nennt die mit Data-Mining verbundene Ökonomie "eine neue Variante des Kolonialismus, fest in der Hand der Tech-Konzerne". Auch der gewaltige Rohstoffhunger des Digitalismus erinnere an den historischen Kolonialismus, sagen die Autoren. Sie thematisieren eingehend den oft illegalen, desaströsen Abbau von Ressourcen wie Kupfer, Silizium, Gold, Kobalt und Lithium im globalen Süden mit seinen schrecklichen menschlichen, sozialen und ökologischen Folgen.
Neokolonialismus macht sich auch in der wachsenden Macht Chinas im Digitalgeschehen bemerkbar. Das sechste Kapitel öffnet die Augen zum Wettrennen zwischen den Tech-Großmächten USA und China nicht nur im Weltraum, sondern ebenso in Afrika. Beim Ausbau seiner neuen Seidenstraße hat China im zukunftsträchtigen Afrika mit dessen junger, technikaffiner Bevölkerung kaum einholbare Territorialgewinne als Wirtschafts- und Digitalmacht erobert. "Die chinesische Expansion trägt dabei durchaus neokoloniale Züge", so die Verfasser. Denn kein Land baue in Afrika mehr Rohstoffe ab und treibe mit Bankkrediten für die Infrastruktur afrikanische Nehmerländer stärker in die Abhängigkeit. Aber: "Aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit orientieren sich die afrikanischen Länder dennoch lieber an der asiatischen Großmacht als an Europa."
Damit das moderne Europa mit seiner aktuellen Geopolitik nicht im alten Fahrwasser kolonialistischer Ausbeutung bleibt, mahnen Dachwitz und Hilbig zu grundsätzlichem Umdenken in Wirtschaft, Arbeit, Handel und Politik. Ansatzpunkte dazu formuliert auf den letzten Seiten Renata Ávila Pinto. Die Menschenrechtsanwältin aus Guatemala ist auf Technologie und geistiges Eigentum spezialisiert und leitet die in Cambridge im Vereinigten Königreich ansässige gemeinnützige "Open Knowledge Foundation". Die Aktivistin, die auch seinerzeit im Team Julian Assange und Wikileaks verteidigte, fordert "kollaborative Entwicklung, Implementierung und Ausgestaltung digitaler Innovation" und votiert für ein internationales Abkommen, "Technologien nur noch dann zu entwickeln und einzusetzen, wenn sie mit der Zukunft des Planeten und den Grundrechten aller Menschen vereinbar sind".
Wie stark der digitale Fortschritt inzwischen auf Kosten von Menschen und Natur geht und mit Überwachung und Kontrolle verbunden ist, hat unlängst auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit seiner Nominierung des vorliegenden Titels für den Deutschen Sachbuchpreis 2025 thematisiert. Dort heißt es: "Sorgfältig legen Dachwitz und Hilbig dar, wie die großen Tech-Konzerne ihre Macht ausbauen und sich nach Art eines digitalen Kolonialismus die Welt aufteilen, alte Abhängigkeiten, vor allem im Globalen Süden, verfestigen und neue etablieren. Damit demontieren sie den Mythos einer immateriellen, neutralen Technologie." Grund genug, das Buch bald zu lesen. ULLA FÖLSING
Ingo Dachwitz und Sven Hilbig: Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen. C. H. Beck Verlag, München 2025, 351 Seiten
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