Solide Unterhaltungslektüre mit aktuellen Einblicken in die nicht immer Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Story startet beinahe belanglos, jedenfalls alltäglich. Eine Mutter verstirbt und der Sohn Terry, als Assistenzarzt auf dem nächsten Karrieresprung in seinem Leben, muss mit der erwartbaren, aber dennoch plötzlichen Situation fertigwerden. Klar schwirren ihm neue Gedanken durch den Kopf. Ein zu regelndes Erbe, räumliche Distanzen und neue Verpflichtungen auf der persönlichen Soll-Seite, Vermögenszuwachs, weniger Zwänge und neue Weggabelungen auf der Haben-Seite. Auch Emotionen spielen natürlich eine Rolle, doch Terry ist von Natur aus ein eher "verkopfter" Mensch, was seinen Fokus auf rationale Entscheidungen lenken lässt. Die zuletzt erlebte Distanz zu seiner Mutter vereinfacht ihm Situation.Aber es wäre der Mühe eines renommierten Autors wie Boyle nicht wert, wenn sich die Geschichte linear entwickeln würde. Prompt lernt Terry eine Fremde namens Bethany kenne, die die Männer magisch anzieht. Es ist nicht die romantische Liebe auf den ersten Blick, aber eine Kraft, die beide in ihren Erwartungen zusammenschweißt. Blöd nur, dass Bethany in einer On-off-Beziehung mit dem Womanizer-Rüpel Jesse ist. Der wiederum ist ein ambivalenter Raubein-Lehrer, der Bethany meistens als Trophäe betrachtet, sie insgeheim aber als sein Lebenselixier schätzt. Eine toxische Dreiecksbeziehung, die einen gefährlichen Strudel ins Zerstörerische bildet.Boyles Fangemeinde dürfte der gewohnte Südstaaten-Sound begeistern, mit dem er den Leser gleichermaßen in die Seele Amerikas und in die menschliche Wüste blicken lässt, jenem negativen Ort, der eine letzte Zuflucht für Heilige und Skorpione darstellt. Dazu gesellen sich Dialoge, die dem prallen Leben abgelauscht zu sein scheinen und mich schlichtweg umgehauen haben. Wie ist es möglich, so pulsierend zu schreiben? Die Geschichte selbst kommt langsam in Fahrt. Das Dreier-Verhältnis hat es in sich und hält einige Wendungen parat. Bethany scheint zwischen beiden Männern gefangen zu sein, und macht selbst eine Metamorphose von einer beeinflussbaren, berechnenden zu einer verantwortungsvollen, fürsorglichen Frau durch.Außerordentlich gut gefallen haben mir die Perspektivwechsel, die der ganzen Entwicklung eine temporeiche Struktur geben. Dabei versteht es Boyle wie kaum ein Zweiter, sich während der Abschnitte in die Köpfe der jeweiligen Hauptperson zu pflanzen, ohne die Rolle des allwissenden Erzählers einzunehmen. Das, was zum Beispiel Terry denkt und wie er tickt, seine Affinität als Mediziner, fremde Menschen bei ihrer ersten Begegnung einer Anamnese zu unterziehen, wird durchgehend auch in der Erzählperspektive verwendet. Das schafft sehr viel Persönlichkeit der Charaktere und Atmosphäre.Die gewohnt großen Gesellschaftsthemen sucht man jedoch vergeblich. Hier beschränkt sich Boyle auf eine paar Anklageszenen, in denen es um einige der Menschheitsfragen geht: Klimawandel, Krankenversicherungsschutz, Artensterben. Doch diese sind in diesem Roman bloße Samen und entfalten keine Triebkraft für eine alles überrankende Botschaft.Sollte ich mich für ein zentrales Thema entscheiden, dann wäre es das Vertrauen in einer Beziehung, die moralische DNA des Menschen. Gefangen in dieser Konstellation müssen sich die Figuren, und allen voran Terry, entscheiden, ob sie an ein Zusammensein, und wichtiger noch, an ein Zuhause glauben, dass sie erreichen wollen - und ob sie bereit sind, dafür eine Wüste zu durchqueren. Um im Bild eines Grimmschen Märchens zu bleiben, ist es die Frage, ob Terry für den Nachhauseweg Brotkrumen oder Kieselsteine verstreuen möchte.Fazit: Eine solide Unterhaltungslektüre mit aktuellen Einblicken in die nicht immer Vereinigten Staaten von Amerika. Vermutlich nicht Boyles stärkstes Statement, aber für mich immerhin 4 von 5 Sternen.