Als ich Ich bin Herodias in die Hand nahm, war mir bewusst, dass ich eine der umstrittensten Frauenfiguren der Geschichte kennenlernen würde, aber nicht aus der Perspektive patriarchaler Geschichtsschreibung, sondern aus ihrer eigenen. Und genau das macht diesen Roman so besonders.
Diana Remus gelingt etwas Außergewöhnliches: Sie haucht einer Frau Leben ein, die in den Evangelien nur als Randfigur erscheint, als Sünderin, als die Böse. Stattdessen erleben wir eine komplexe Persönlichkeit, die in einer Welt voller Machtspiele, Intrigen und männlicher Dominanz ihren Platz behaupten muss. Die Geschichte beginnt in Rom zur Zeit Kaiser Augustus und führt uns durch Herodias' Leben, von ihrer Kindheit über ihre Ehen bis zum verhängnisvollen Zusammentreffen mit Johannes dem Täufer.
Was mich als Lektorin beeindruckt, ist die sprachliche Balance, die Remus findet. Der Ton ist reflektiert und tiefgehend, ohne ins Schwülstige abzurufen. Römische und jüdische Begriffe, Feste und Bräuche werden organisch in die Erzählung eingewoben, es fühlt sich nie nach aufgesetztem Geschichtsunterricht an. Die Sprache fließt, trägt, nimmt uns mit in eine Zeit, die fremder nicht sein könnte, und macht sie gleichzeitig erschreckend nah.
Aus Autorensicht schätze ich besonders, wie geschickt die Perspektivwahl genutzt wird. Herodias erzählt uns ihre Geschichte selbst, und diese Ich-Perspektive gibt dem Roman seine Kraft. Wir erleben nicht nur die Ereignisse, sondern auch ihre Gedanken, Zweifel, ihre Wut und ihre Liebe. Das macht die historische Figur menschlich, nachvollziehbar, ohne sie zu verklären. Remus scheut sich nicht, auch die schwierigen Entscheidungen ihrer Protagonistin zu zeigen, die moralischen Grauzonen, in denen sich Herodias bewegen muss.
Thematisch ist der Roman hochaktuell. Machtmissbrauch, Machtlosigkeit, weibliche Solidarität, die Frage nach Handlungsspielräumen in unterdrückerischen Strukturen, das sind Fragen, die uns heute genauso beschäftigen wie damals. Herodias erkennt früh, dass eine Frau in ihrer Welt nur überleben kann, wenn sie klug handelt und Verbündete findet. Der weibliche Zusammenhalt, den sie erfährt und den sie selbst praktiziert, wird zu ihrer stärksten Waffe.
Die Liebesgeschichte zwischen Herodias und Herodes Antipas ist vielschichtig erzählt, nicht als kitschige Romanze, sondern als komplexe Beziehung zwischen zwei Menschen, die beide in politische Zwänge eingebunden sind. Wenn Johannes der Täufer auftritt und gegen Herodias hetzt, spüren wir die Verzweiflung einer Frau, die plötzlich zur Zielscheibe wird, weil sie sich weigert, unsichtbar zu bleiben.
Ich bin Herodias ist mehr als ein historischer Roman. Es ist eine Rehabilitierung, eine Frage an unsere Geschichtsschreibung: Wessen Stimmen hören wir? Wessen Geschichten werden erzählt? Diana Remus gibt einer Frau ihre Stimme zurück, die über Jahrhunderte zum Schweigen gebracht wurde. Das ist mutig, das ist notwendig, das ist großartig.