Meine MeinungDer Autorin ist ein bewegendes und ausdruckstarkes Buch gelungen. Zwei Protagonisten, zwei Handlungsstränge und so viel Trauriges und Unausgesprochenes in zwei Leben. Vater und Tochter, die sich auf unterschiedliche Art und Weise nach Liebe sehnten, denen aber jede Menge Worte fehlten, um sich wirklich nah zu sein.Theo, Vater von Frieda, wird 97 Jahre alt. Während des 1. Weltkrieges als letztes Kind in eine schweigsame Bauernfamilie hineingeboren, muss mit Mitte 20 in den Krieg ziehen. Durch viel Glück überlebt er den 2. Weltkrieg und heiratet seine große Liebe Wilma. Doch Wilma stirbt sehr jung und Theo blebt mit Tochter Frieda zurück. Die kleine Familie und geborgene Zweisamkeit hat bald ein Ende. Berta wird Theos zweite Ehefrau, Frieda jedoch lehnt Berta als Stiefmutter ab. Theo entscheidet sich für Berta.Anna Mitgutsch hat drei ziemlich sperrige Figuren geschaffen. Sie lässt sich viel Zeit sie zu charakterisieren. Das ganze erste Drittel lernen wir Theo, Frieda und Berta kennen und ¿ nein, auf keinen Fall lieben. Alle drei Charaktere sind weit davon entfernt, als dass man sie mögen könnte. Berta ist eine egoistische, alte Frau. Herzlos besteht sie jahrelang darauf, dass Frieda nicht zu ihrer Familie gehören darf. Theo ist sein Leben lang unterwürfig und demütig, um das Maximum an Ruhe und Glück zu erfahren. Er dachte, damit würde er Zufriedenheit erlangen. Und Frieda, Frieda ist zu ängstlich und zurückhaltend, um von ihrem Vater das einzufordern, was ihr zusteht.Diese drei Menschen müssen viele Verluste akzeptieren und verarbeiten. Es gibt viele Tote zu betrauern: Ehefrau, Mutter, Kinder, Enkel ¿ aus jedem Blickwinkel ein anderer Schmerz. Nach und nach offenbart uns Anna Mitgutsch die Hintergründe und rundet damit das Bild und den Charakter der jeweiligen Figur ab.Und dann kommt Ludmila. Die ukrainische Pflegerin, die nicht alles versteht, die aber durch ihre Art in Theo neue Lebensfreude weckt. Bei ihr fühlt er sich gut aufgehoben, angenommen und verstanden. Sie ist ihm näher als seine eigene Tochter es jemals war oder werden könnte. Sie ist es, die den schweigsamen und wortkargen Theo zum Sprechen bringt. In ihrer Gegenwart fällt ihm das Erinnern und Erzählen leicht. Für sie findet er die richtigen Worte. Für sie wird Theo zum ersten Mal in seinem Leben mutig und handelt selbstbestimmt. Doch für vieles ist es leider viel zu spät. Theo ist ein alter Greis, der seinen letzten Abschnitt bereits gelebt hat. Sein 97 Jahre alter Körper hat keine Kraft mehr.¿Sie späte Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die im Dunkeln lag und ihm nie zuvor etwas bedeutet hatte, weckte in Theo eine Lust auf die Fremde, aus der Ludmila kam. Wie ein Findling in der Landschaft machte sie ihn neugierig auf den Boden, aus dem sie herausgeschleudert worden war, er fand, sie war im falschen Leben, am falschen Ort.¿ (S. 182)Ein Handlungsstrang, aus der Erzählerperspektive, ist ganz nah an Theo. Im zweiten, der in der Ich-Form geschrieben ist, berichtet Frieda. Damit kommt man als Leser direkt an sie ran, emotional aber bleibt sie einem dennoch fern. Die Antipathie, die sie ausstrahlt, bildet eine Distanz, die nicht (leicht) überwunden werden kann. Sie findet keinen Ausweg aus ihrer Einsamkeit ihrer Trauer und machte es dem Leser schwer, sich für sie zu begeistern. Sie hadert sehr mit der Vergangenheit ihres Vaters, der im 2. Weltkrieg Soldat an der Front war. Was hat er gemacht damals? Wie viele Menschen hat er getötet? Hatte er Spaß daran? Ab wann ist man (mit)schuldig? Jahrzehnte lang versuchte sie auf diese und andere Fragen Antworten von Theo zu bekommen. Man ist versucht ihr zuzurufen: ¿Nun ist es gut, lass ihn in Ruhe, er ist ein alter Mann¿. Und dann erschrickt man vor den eigenen Worten! Ist es wirklich gut? Ab wann ist es denn genug?¿Allein die Fakten sprachen gegen ihn [Theo]. Es ging nicht darum, ob meine Vorstellungskraft ausreichte, ich hatte es von ihm selber hören wollen, von meinem Vater, weil jede Geschichte anders war, die Millionen von Geschichten der Opfer und die Millionen von Erfahrungen und Täter, der Mitläufer und Mitwisser, und keine glich der anderen.¿ (S. 121)Das Ende ist sprachlich intensiv! Es finden sich viele schöne und weise Sätze zum Alter, der Würde und den vielen Emotionen, die Menschen haben, auch wenn sie kurz vorm Tod stehen. Ich las begeistert und war gleichzeitig traurig, dass dieses tiefsinnige Buch bald zu Ende sein würde.Mir ist nicht ganz klar, was genau die Intention der Autorin mit diesem Buch war. So verarbeitet und verwebt sie einige schwere Themen in dieser Geschichte, die alle zusammen ein gehaltvolles Buch ergeben. Denn neben dem Alter, des Zusammenseins im Alter, dem Zerwürfnis von Eltern und Kindern, dem Tod von Elternteilen und jungen Menschen, geht es im letzten Drittel um das Kriegstagebuch von Theo, durch das Frieda, wie auch der Leser, die einzelen Stationen Theos im 2. Weltkrieg nachvollziehen kann. Hier wird der Krieg im Osten sichtbar. Dabei wird auch das Thema Deportation von ukrainischen Juden angeschnitten bzw. thematisiert. Friedas Suche nach Ludmila ist sehr geschichtsträchtig und lädt zur weiteren Recherche ein.¿Jeder Mensch bekommt eine bestimmte Zeit im Kontinuum der Menschheitsgeschichte und jeder bekommt seine Herkunft und bestimmte Eigenschaften vererbt, die alles bestimmen, jedenfalls fast alles, was er sein wird. Mit dem Rest freien Willens kann er sich ein Leben lang herumraufen und versuchen, ihm seinen unverwechselbaren Stempel aufzudrücken und sich von der Hypothek seiner beschädigten Eltern zu befreien.¿ (S. 418)FazitDieses Buch ist ist nicht für jedermann. Auf dieses Buch muss man sich mit all seiner Langsamkeit einlassen, das Ende sacken lassen können, um das Ganze zu begreifen. Es ist eine Geschichte ohne Sympathieträger. Getragen wird es von der sprachlichen Intensität und Weisheit. Zu guter Letzt erhält man durch einen Kunstgriff auch noch historische Informationen zur Ukraine und ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg. Fantastisch und absolut lesenswert!